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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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erinnerte sich weder an das Baby noch an die Trauer, sah aber fast greifbar ein winziges blauwollnes Strickmützchen vor sich, das auf dem Nachtschrank neben dem Bett der Mutter gelegen hatte. Bei ihrem Tod hatte der Vater all ihre Sachen aus dem Haus entfernt, und damit war auch die blaue Mütze verschwunden. Hatte Baruch sie ebenfalls, zusammen mit all ihren Kleidern, dem Lepra-Krankenhaus in Talbiye geschenkt? Fima gab auf, verzichtete auf den Bus und ging zu Fuß Richtung Rechavia. Vergeblich versuchte er sich ins Gedächtnis zu rufen, ob er Nina versprochen hatte, sie nach der Arbeit vom Büro abzuholen und mit ihr in die Komödie mit Jean Gabin zu gehen. Oder hatten sie sich vielleicht vorm Kino treffen wollen? Einen Augenblick später packten ihn Zweifel, ob er überhaupt mit Nina verabredet war oder nicht vielmehr mit Annette Tadmor. Hatte er in seiner Zerstreutheit etwa versehentlich beide eingeladen? In keiner Tasche wollte sich eine Telefonmünze finden lassen. Deshalb wanderte er weiter durch die leeren Straßen, die hier und da von einer gelben, in flirrenden Nebel gewindelten Laterne erleuchtet wurden, ignorierte die durchdringende Kälte und sann über seine Mutter nach, die ebenfalls die Kälte geliebt und den Sommer gehaßt hatte. Dann fragte er sich, was sein Freund Uri Gefen wohl in diesem Augenblick in Rom tun mochte. Sicher saß er in einem lauten Café an einem belebten Platz, inmitten scharfsinniger Männer und schöner, kühner Frauen, ließ seine Bauernstimme dröhnen und faszinierte seine Zuhörer mit Geschichten über die Luftkämpfe, an denen er teilgenommen hatte, oder über die Liebesaffäre, in die er im Fernen Osten getaumelt war, verstieg sich nach gewohnter Art in ironisch bittere Verallgemeinerungen über die Kapricen der Triebe, skizzierte mit feinen Worten den ständigen Schatten des Absurden, der alle Taten begleitetund stets die wahren Motive verdeckt, und schloß mit irgendeinem nachsichtigen Spruch, der endlich einen Schleier versöhnlichen Spotts über alles breitete – über seine Geschichte ebenso wie über die Liebeleien und Lügen als solche und auch über die Verallgemeinerungen, die er gerade eben erst selber benutzt hatte.
    Fima wünschte, er könnte Uris breite, knorrige Hand im Nacken spüren. Sehnte sich nach seinen Späßen, seinem Geruch, seinem intensiven Atem und seinem warmen Lachen. Trotzdem und ohne jeden Widerspruch dazu bedauerte er ein wenig, daß sein Freund in ein, zwei Tagen schon zurückkam. Er schämte sich seiner Affäre mit Nina. Obwohl er überzeugt war, daß Uri längst von diesen Fürsorgeakten wußte, ja sie womöglich sogar selbst initiierte – aus Großzügigkeit und wegen der Zuneigung, die er für sie beide, Fima und Nina, empfand. Oder etwa aus kühlem Amüsement an einem königlichen Spielchen? Konnte es sein, daß er von Nina nach jedem Beischlaf ausführlichen Bericht verlangte und erhielt? Saßen sie da und ließen das Lustspiel in Zeitlupe vor sich ablaufen, um gemeinsam in liebevolles, mitleidiges Lachen auszubrechen? Vor zwei, drei Tagen hatte er Nina bei ihr zu Hause auf dem Teppich enttäuscht und heute morgen, durch Annettes Schuld, erneut in seinem Bett. Das Herz verkrampfte sich, als er daran dachte, wie sie ihm mit ihren herrlich geformten Fingern über die Stirn gestrichen und ihm dabei zugeflüstert hatte, gerade so, mit seinem schlaffen Glied, dringe er tiefer als beim Geschlechtsakt zu ihr durch. Selten, fast mystisch erschienen ihm diese Worte, die jetzt, da er sich ihrer erinnerte, in hellem Goldlicht erstrahlten, und er wünschte sich von ganzem Herzen, das Zerbrochene wieder zu heilen, ihr und Annette und auch Jael und Tamar, ja jeder Frau der Welt, einschließlich der häßlichen und ungeliebten, perfekte körperliche Liebe in Fülle zu schenken und Vater-, Bruder-, Sohnes- und Gnadenliebe obendrein.
    In einem dunklen Hof fing ein unsichtbarer Hund heftig zu bellen an. »Was ist?« antwortete Fima verstört. »Was hab’ ich dir denn getan?« Worauf er leicht verärgert hinzufügte: »Entschuldige mal. Wir kennen uns nicht.«
    Er malte sich aus, wie sich jetzt hinter den Häuserfassaden, hinter Fensterläden, Scheiben und Vorhängen, winterliches Familienleben abspielte: Ein Mann sitzt auf seinem Sessel, in Hausschuhen, und liest ein Buch über die Geschichte des Dammbaus. Auf der Armlehne steht ein Gläschen Brandy. Seine Frau kommt rosig duftend, das Haar frisch gewaschen, ineinem blauen Flanellmorgenrock aus der

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