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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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Dusche. Auf dem Teppich spielt ein kleines Kind stillvergnügt Domino. Eine zarte Feuerblume blüht hinter dem Ofengitter. Bald werden sie das Abendessen vor dem Fernseher einnehmen, der eine Folge aus einer lustigen Familienserie ausstrahlt. Danach bringen sie das Kind ins Bett, erzählen ihm eine Geschichte zum Einschlafen, geben ihm einen Gutenachtkuß und setzen sich nebeneinander auf die Couch im Wohnzimmer, legen beide die strumpfsockigen Beine auf den Couchtisch, tuscheln ein wenig und schlingen vielleicht die Finger ineinander. Draußen erklingt eine Krankenwagensirene. Und danach nur Donner und Wind. Der Mann steht auf, um das Küchenfenster fester zu schließen. Auf dem Rückweg bringt er auf einem Tablett zwei Glas Tee mit Zitrone und einen Teller mit geschälten Orangen. Eine kleine Wandlampe ergießt über beide einen Kreis häuslichen Lichts von braun-rötlicher Färbung.
    Fima zuckte im Dunkeln zusammen, weil diese Bilder ihm neben Schmerzen auch Sehnsucht nach Jael, ja sogar ein sonderbares Sehnen nach sich selbst verursachten: als verberge eines der erleuchteten Fenster unterwegs einen anderen, wahren Fima – nicht dick, nicht lästig, nicht glatzköpfig, nicht in angegrauter langer Unterwäsche, ein fleißiger, ehrlicher Fima, der sein Leben vernünftig ohne Schmach und Lügen lebte. Ein ruhiger, penibler Fima. Obwohl er längst begriffen hatte, daß die Wahrheit außer seiner Reichweite lag, sehnte er sich immer noch zutiefst danach, ein wenig von der Lüge abzurücken, die wie feiner Staub in jeden noch so verborgenen Winkel seines Lebens eindrang.
    Der andere, wahre Fima sitzt jetzt in einem ansprechenden Arbeitszimmer, umgeben von Bücherregalen, zwischen denen Reproduktionen alter Stiche Jerusalems von Reisenden und Pilgern der vergangenen Jahrhunderte hängen. Sein Kopf schwimmt im Glanzkreis der Tischlampe. Die linke Hand ruht auf dem Schenkel seiner Frau, die mit baumelnden Beinen bei ihm auf der Schreibtischkante sitzt, und die beiden tauschen Gedanken über irgendeine neue Hypothese in der Frage des Immunsystems oder auf dem Gebiet der Quantenphysik aus. Nicht daß Fima die leiseste Ahnung gehabt hätte, wie das Immunsystem arbeitet oder was Quantenphysik ist, aber er malte sich aus, daß der wahre Fima und seine Frau, beide Fachleute in Immunologie oder Physik, dort im warmen, hübschen Studierzimmer gemeinsam über einer Entwicklung brüteten, die das allgemeine Leid ein wenig verringern würde. Hatte vielleicht Karla, oder seineMutter, dieses Arbeitszimmer gemeint, als sie ihm im Traum zugerufen hatte, auf die arische Seite überzuwechseln?
    Ecke Smolenskin-Straße, vor Premierminister Schamirs Amtswohnung, sah Fima ein kleines Mädchen auf einem Deckenbündel neben den Mülltonnen liegen. Eine Hungerstreikende? Eine Ohnmächtige? Womöglich eine Getötete? Hat eine trauernde Mutter aus Bethlehem die Leiche ihrer von uns ermordeten Tochter hierher gelegt? Erschrocken beugte er sich zu der Kleinen nieder, doch da war es nur ein Haufen feuchter Gartenabfälle in Sacktuch gewickelt. Fima verharrte davor. Der Gedanke, sich hier auszustrecken und ebenfalls in Hungerstreik zu treten, faszinierte ihn, erschien ihm sowohl gut als passend. Er hob die Augen und entdeckte ein einzelnes gelbes Licht hinter dem geschlossenen Vorhang im letzten Zimmer des zweiten Stocks. Sah im Geist Jizchak Schamir, Hände im Rücken, zwischen Fenster und Tür auf und ab schreiten und über das Telegramm da vor sich auf der Fensterbank nachgrübeln, von dem er nicht wußte, wie er es beantworten sollte. Womöglich spürte er auch winterliche Altersschmerzen in Schultern und Rücken. Schließlich war er kein junger Mann mehr. Auch er hatte revolutionäre Jahre im Untergrund mitgemacht. Vielleicht wäre es schön, einen Moment die Gegnerschaft zu vergessen? Jetzt zu ihm hinaufzugehen, um ihn aufzumuntern und seine Einsamkeit ein wenig zu lindern? Die ganze Nacht von Mensch zu Mensch mit ihm zu reden? Nicht kleinlich rechthaberisch, nicht vorwurfsvoll, nicht beschuldigend, sondern wie jemand, der behutsam die Augen eines guten Freundes zu öffnen versucht, den schlechte Menschen in eine unangenehme Angelegenheit verwickelt haben, die auf den ersten Blick ausweglos erscheint, während sich in Wirklichkeit eine vernünftige, ja sogar einfache und allgemeinverständliche Lösung anbietet, die in einem entspannten, ruhigen Gespräch von ein paar Stunden selbst dem stursten Herzen mühelos nahegebracht werden kann.

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