Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
Vom Netzwerk:
Indien bis Kusch besäßen und wir gerade eben ein einziges kleines Land von Handtellergröße. Und begann diese vierzig Staaten namentlich aufzuzählen, wobei er genüßlich jedesmal einen hageren Finger mehr aufstellte. Als er bei Iran und Indien angelangt war, konnte Fima es nicht mehr aushalten. Er fiel seinem Vater im Brustton der mit Füßen getretenen Gerechtigkeit ins Wort, stampfte wie ein Kind auf den Boden und schrie, der Iran und Indien seien keine arabischen Staaten.
    »Nun? Also? Was schert’s dich?« fragte der Alte, verschmitzt lächelnd im Singsang eines Vorbeters. »Haben wir etwa schon eine befriedigende Antwort auf die tragische Frage, wer Jude ist, gefunden, so daß wir uns nun den Kopf darüber zerbrechen müssen, wer Araber ist?«
    Fima sprang verzweifelt auf, eilte ans Telefon, um ein Taxi zu bestellen und stürzte danach gleich ans Bücherbord, um die Enzyklopädie ins Feld zu führen. Damit hoffte er, seinem Vater endlich eine vernichtende Niederlage zu bereiten, von der er sich nicht wieder erholen würde. Doch wie bei einem Alptraum wollte ihm partout nicht einfallen, unter welchem Stichwort und in welchem Band er die Liste arabischer Staaten nachschlagen müßte. Während er noch wutschnaubend einen Band nach dem anderen herausriß, merkte er plötzlich, daß sein Vater – leise eine zarte chassidische Weise, von leichtem, trockenen Husten durchsetzt, vor sich hinsummend – aufstand, Hut und Stock einsammelte und seinem Sohn unter Abschiedsworten flink einen zusammengefalteten Geldschein in die Hosentasche steckte, indes Fima stammelte: »Das ist einfach unmöglich. Ich glaub’s nicht. Das kann doch nicht sein. Das ist ja Wahnsinn.«
    Aber nicht zu erklären versuchte, was ihm denn nun unmöglich erschien, weil der Vater, schon an der offenen Tür, hinzufügte: »Nun. Auch gut. Ich geb’ nach. Soll’s halt ohne die Inder sein. Dann haben sie eben nur neununddreißig Staaten. Auch das ist weit mehr, als sie verdient haben. Auf gar keinen Fall dürfen wir zwei den Arabern erlauben, Unfriedenzwischen uns zu säen, Fimotschka. Die Freude werden wir ihnen nicht machen. Die Liebe, wenn man das so ausdrücken kann, siegt über den Streit. Das Taxi ist sicher schon unten, und man darf einen Juden nicht von der Arbeit abhalten. Nun sind wir wieder nicht auf die Hauptsache zu sprechen gekommen. Nämlich, daß das Herz schon müde und erschöpft ist. Bald mache ich mich auf den Weg, Fimotschka – gezeichnet: der Herr der Heerscharen. Und du, mein Lieber, was wird aus dir? Was aus deinem kleinen Sohn? Denk ein bißchen nach, Efraim. Überlege es dir gut. Du bist doch ein Denker und Dichter. Denk nach und sag mir bitte, woher wir alle stammen. Leider habe ich keine Söhne und Töchter außer dir. Und mir scheint, auch ihr habt niemanden außer mir. Die Tage vergehen ohne Ziel, ohne Freude, ohne Sinn. In fünfzig oder hundert Jahren sitzen hier in diesem Zimmer jetzt noch gar nicht geborene Menschen, eine Generation, stark und gewaltig, und die Frage, ob du und ich einmal hier gewesen sind und wenn ja – wozu wir gewesen sind und was wir getan haben im Leben, ob wir rechtschaffen oder böse, froh oder unglücklich waren, ob wir irgend etwas Nützliches getan haben – diese Fragen werden ihnen piepsegal sein, so wichtig wie eine Knoblauchschale, wie man sagt. Keinen Gedanken werden sie auf uns verschwenden. Werden einfach hier hocken und ihr Leben auf ihre Weise leben, als seien du und ich und wir allesamt nur Schnee von gestern. Grippe vom letzten Jahr. Eine Handvoll Staub. Bei dir hier hat man auch nicht genug Luft zum Atmen. Die Luft selber ist ein bißchen stickig. Abgesehen vom Weißbinder brauchst du vielleicht auch noch einen Gipser und andere Handwerker. Und die Rechnung schick bitte mir. Was die Kosaken anbetrifft, Efraim, die läßt du lieber in Ruhe. Was weiß ein Bursche wie du schon von Kosaken. Statt dich um die Kosaken zu kümmern, hör lieber endlich auf, das Leben zu vergeuden. Wie ein kahler Strauch in der Steppe. Sei mir gegrüßt.«
    Ohne auf Fima, der ihn begleiten wollte, zu warten, schwenkte der Alte den Hut, als nehme er für immer Abschied, und ging, rhythmisch mit dem Stock gegen die Geländerstreben schlagend und eine leise Weise vor sich hinsummend, die Treppe hinab.

9.
»So zahlreich sind die Dinge, die wir hätten besprechen,
vergleichen können ...«
    Noch zwei Stunden blieben Fima bis zum Arbeitsbeginn in der Praxis. Er hatte vor, das Bett frisch zu beziehen, im

Weitere Kostenlose Bücher