Der dritte Zustand
herausträufelten. Und schon auf den Stufen glaubte Fima den spezifischen Geruch seines Vaters in der Nase zu spüren – einen Duft, den er von frühester Kindheit an kannte und auch in einem Raum voll fremder Menschen hätte herausschnuppern können: Es war ein Hauch Kölnisch Wasser, zusammen mit der stickigen Luft geschlossener Räume, dem Atem alter Möbel, dem Dunst von gekochtem Fisch mit Karotten, Federbetten und einem Anflug zu süßen Likörs.
Als Vater und Sohn sich schnell und schlaff umarmten, weckte dieser aschkenasische Geruch bei Fima eine Mischung aus Abscheu, Scham vor dieser Abscheu und dem alten Drang, seinen Vater ein bißchen zu reizen, auf irgendeinem ihm heiligen Grundsatz herumzutrampeln, ärgerliche Widersprüche in seinen Auffassungen aufzudecken, ihn ein wenig aus dem Häuschen zu bringen.
»Nuuu«, begann der Vater, prustend und schnaufend von der Anstrengung des Treppensteigens, »was hat mein Herr Professor mir heute zu erzählen?Ist Zion schon ein Erlöser erschienen? Haben die Araber uns ihr Herz in Liebe zugewandt?«
»Schalom, Baruch«, erwiderte Fima, an sich haltend.
»Ja. Schalom, mein Lieber.«
»Was gibt’s Neues? Macht dir der Rücken noch zu schaffen?«
»Der Rücken«, sagte der Alte, »zum Glück ist der Rücken dazu verurteilt, stets hinten zu bleiben. Noch ist der Rücken dort – und ich bin schon hier. Er wird mich niemals einholen. Und wenn, Gott behüte, doch – kehre ich ihm den Rücken. Aber mein Atem wird immer kürzer. Genau wie meine Geduld. Und hier verkehren sich die Dinge: Ich setze ihm nach, nicht er mir. Und womit beschäftigt sich der Herr Efraim in diesen hohen Tagen? Fährt fort, die Welt durch das Walten des Allmächtigen zu verbessern?«
»Es gibt nichts Neues«, sagte Fima und fühlte sich, während er dem Vater Stock und Hut abnahm, genötigt hinzuzufügen: »Absolut nichts Neues. Bloß daß der Staat in die Brüche geht.«
Der Alte zuckte die Achseln: Diese Trauerreden höre er nun schon fünfzig Jahre – der Staat sei dies, und der Staat sei nicht das –, und inzwischen lägen die Trauerredner längst sieben Zoll unter der Erde, Staub im Mund, und der Staat würde stärker und stärker. Ihnen allen zum Trotz. Je mehr man ihn unter Druck setze, um so mehr erstarke er und breite sich aus. Unterbrich mich nicht, Efraim. Laß mich eine nette Geschichte erzählen. Bei uns in Charkow, zu Zeiten von Lenins Revolution, hat irgendein törichter Anarchist mitten in der Nacht ein Schlagwort an die Kirchenwand geschmiert: Gott ist tot – gezeichnet: Friedrich Nietzsche. Gemeint ist der irrsinnige Philosoph. Nun, da ist in der nächsten Nacht ein Klügerer gekommen und hat dort hingeschrieben: Friedrich Nietzsche ist tot – gezeichnet: Gott. Einen Moment, ich bin nicht fertig. Erlaube mir gütigst, dir zu erläutern, wo die Pointe der Geschichte steckt, und schalt unterdessen mal den Wasserkessel an und schenk bitte deinem Vater ein mikroskopisches Tröpfchen von dem Cointreau ein, den ich dir letzte Woche mitgebracht habe. Übrigens wird es Zeit, daß du mal deine Bude hier streichen läßt, Fimotschka. Damit nicht das Ungeziefer die Oberhand gewinnt. Du bestellst bloß den Weißbinder, und die Rechnung schickst du einfach mir. Wo waren wir stehengeblieben? Ein Glas Tee. Euer Nietzsche ist einer der Erzväter der Unreinheit. Ein Abgrund des Greuels. Hier, ich erzähl’ dir eine Begebenheit zwischen Nietzsche undRabbi Nachman Krochmal 6 , die einmal gemeinsam in der Eisenbahn nach Wien fuhren.
Wie gewohnt erklärte der Vater im folgenden, wo hier die Pointe lag. Fima lachte schallend, weil die Erklärung, im Unterschied zu der Geschichte selbst, amüsant war. Worauf der Vater sich wiederum über Fimas Gelächter freute und noch eine Bahnfahrtgeschichte draufgab, diesmal von einem Paar auf Hochzeitsreise, das die Hilfe des Schaffners in Anspruch nehmen mußte. »Und begreifst du, Efraim, wo hier die wahre Pointe steckt? Nicht im Verhalten der Braut, sondern eben darin, daß der Bräutigam ein Schlemihl ist.«
Fima sagte sich die Worte, die er am Vortag Dr. Etan hatte sagen hören: »Ich hätte sie alle beide aufgehängt.«
»Und was ist nun der Unterschied zwischen einem Schlemihl und einem Schlimasel, Efraim? Der Schlemihl ist der, der dem Schlimasel immer kochendheißen Tee auf die Hose gießt. So sagt man. Aber in Wirklichkeit verbirgt sich hinter dieser Spitzfindigkeit etwas Tiefes, Geheimnisvolles: Diese zwei, Schlemihl und Schlimasel,
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