Der dritte Zustand
selben Schwung auch Hemd und Unterwäsche und die Handtücher in Küche und Bad zu wechseln und auf dem Weg zur Arbeit alles in die Wäscherei zu bringen. Als er die Küche betrat, um das Handtuch vom Haken zu klauben, sah er den Ausguß voll klebrigem Geschirr, auf der Anrichte eine fettige Bratpfanne und auf dem Tisch eingetrocknete Marmelade in einem seines Deckels beraubten Glas. Ein fauler, von einem Fliegenschwarm umschwirrter Apfel lag auf dem Fensterbrett. Fima packte ihn vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger – wie den Kragen von jemand mit einer ansteckenden Krankheit – und warf ihn in den Mülleimer unter der überquellenden Spüle. Nur quoll auch der Eimer schon über. Der angegammelte Apfel kullerte von der Spitze des Haufens hinunter und fand Zuflucht zwischen alten Sprühdosen und Putzmittelbehältern hinter dem Mülleimer. Dort bekam man ihn nur kniend oder kriechend wieder heraus. Fima beschloß, diesmal kompromißlos und ohne weitere Rücksicht den Flüchtling um jeden Preis zu schnappen. Gelang es ihm, würde er das als Zeichen für einen glücklichen Anfang werten und unter Ausnutzung der Erfolgssträhne den Mülleimer hinunterbringen. Auf dem Rückweg daran denken, endlich die Zeitung und die Post aus dem Briefkasten zu fischen. Und gleich weiter das Geschirr spülen und Ordnung im Kühlschrank schaffen, selbst wenn er deswegen das Bettbeziehen aufschieben müßte.
Doch als er niederkniete, um den verlorenen Apfel zu suchen, entdeckte er hinter dem Eimer auch ein halbes Brötchen und ein fettiges Margarinepapier sowie die ausgebrannte Birne vom gestrigen Stromausfall, bei der ihm jetzt einfiel, daß sie eigentlich gar nicht ausgebrannt war. Und da kam ihm auch ein Kakerlak entgegengewankt, der ihm müde und apathisch aussah. Nicht zu flüchten versuchte. In jäher Mordlust zog Fima noch im Knien einen Schuh aus, schwang ihn hoch, zuckte aber mittendrin zurück, weil ihm im selben Moment einfiel, daß Stalins Schergen seinerzeit genauso, durch einen Hammerschlag auf den Kopf, Leo Trotzki im mexikanischen Exil ermordet hatten. Dabei entdeckte er verblüfft die Ähnlichkeitzwischen Trotzki auf dessen letztem Bild und seinem Vater, der eben erst hier gewesen war, um ihn inständig zu bitten, doch zu heiraten. Den Schuh starr in der Hand, beobachtete er staunend die Fühler des Insekts, die langsam Halbkreise beschrieben. Sah viele winzige, harte, schnurrbartartige Stoppeln. Musterte die dünnen, offenbar vielgliedrigen Beine. Gewahrte feingeschnittene, längliche Flügel. Und empfand plötzlich Ehrfurcht vor der zarten, präzisen Form dieses Geschöpfs, das ihm nun nicht mehr eklig, sondern wunderbar geformt erschien: Vertreter einer verhaßten, verfolgten, in die Abwasserleitungen vertriebenen Art, einer mit sturer Überlebenskunst und schneller List begabten Spezies, die einer uralten, auf Furcht, simpler Grausamkeit und traditionellen Vorurteilen basierenden Abscheu zum Opfer gefallen war. Flößen uns womöglich gerade die Wendigkeit dieser Rasse, ihre Armseligkeit und Häßlichkeit, die starken Lebenskräfte, mit denen sie begnadet ist, Grauen ein? Grauen vor der Mordlust, die allein schon ihr Erscheinen bei uns hervorruft? Grauen vor der geheimnisvollen Vitalität eines Geschöpfs, das weder stechen noch beißen kann und immer Distanz hält? Fima zog sich also stumm und höflich zurück. Streifte – den Geruch seiner Socke ignorierend – den Schuh wieder über den Fuß. Und schloß sanft die Tür des Unterschranks, um das Lebewesen dort nicht zu erschrecken. Dann richtete er sich stöhnend auf und beschloß, die Hausarbeiten auf einen anderen Tag zu verschieben, da nicht ein oder zwei, sondern ungebührlich viele und lästige anstanden.
Er schaltete den Kessel an, um sich Kaffee zu machen, stellte das Radio auf den Musiksender ein und erwischte genau den Anfang des Requiems von Fauré, dessen erste, tragische Klänge ihn bewegten, ans Fenster zu treten und eine Weile auf die Bethlehemer Berge zu schauen. Die Menschen, von denen sein Vater gesprochen hatte, die, die noch nicht geboren waren und in hundert Jahren in diesem Zimmer wohnen würden, ohne irgendwas über ihn und sein Leben zu wissen – sollte bei denen wirklich kein einziges Mal die Neugier danach erwachen, wer Anfang 1989 hier gewohnt hatte? Aber warum sollte sie das interessieren? Gab es denn irgend etwas in seinem Leben, das Leuten nützen könnte, deren Eltern noch nicht mal geboren waren? Etwas, das ihnen wenigstens
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