Der dritte Zustand
Sogar im Tonfall glich er Ted – mit der ruhigen Stimme eines ausgewogenen, einsamen Mannes. Dimmi putzte seine Brille und sagte weiter: »Zelils Familie ist auch mit schuld. Warum haben sie ihren Hund krank zurückgelassen und sind weggefahren? Sie hätten ihn mitnehmen müssen. Oder wenigstens irgendwo unterbringen können. Warum ihn einfach so in den Müll werfen? Bei den Cherokees gibt es ein Gesetz, daß man nichts wegwerfen darf. Sogar eine zerbrochene Schüssel bewahren sie weiter im Wigwam auf. Alles, was du einmal gebraucht hast – nicht wegschmeißen, vielleicht braucht es dich? Sie haben auch so was wie die Zehn Gebote, vielleicht weniger als zehn, und das erste lautet, du sollst nichts wegwerfen. Im Keller hab’ ich eine Kiste mit Spielzeug, seitdem ich ganz klein war. Dauernd schreien sie mich an, wirf das doch endlich weg, wer braucht das denn noch, nimmt nur Platz weg, verstaubt doch bloß, aber ich laß es nicht zu. Wegwerfen ist dasselbe wie Töten, sagte Schneetochter zu Wisperwindsee und schlang ihre schönen Finger um den Wolfsstein.«
»Was ist das?«
»Eine Geschichte von einem Indianermädchen aus dem Stamm der Cherokees. Wisperwindsee war der vertriebene Stammeshäuptling.«
»Erzähl mal.«
»Geht nicht. Ich kann an nichts anderes denken. Immer, immerzu guckt dieser Hund mich an, diese braunen Augen, so brav, gehorsam, glücklich, daß alle sich mit ihm abgeben, wedelt mit dem Schwanz, leckt jeden, der sich über ihn beugt, warm ab. Sogar als Ronen ihm die Beine gefesselt hat, hat er ihn geleckt. Und das Ohr ist ihm abgerissen und zu Boden gefallen wie ein Stück Brot. Die ganze Zeit geht mir sein Heulen nichtaus dem Kopf, und vielleicht lebt er wirklich noch so halb in einer Pfütze zwischen den Felsen im Wadi und wartet winselnd auf einen Arzt. Heute nacht wird Gott kommen und mich deswegen töten. Am besten geh’ ich überhaupt nicht schlafen. Oder er tötet mich dafür, daß ich sie hasse, wo es doch verboten ist, seine Eltern zu hassen. Wer hat ihnen denn gesagt, daß sie mich zeugen sollen? Ich hab’ sie nicht drum gebeten. Man kann überhaupt nichts anfangen. Was man auch tut, es geht schlimm aus. Nichts als Probleme und Ärger. Ich kann machen, was ich will – nur Probleme und Ärger. Du bist mal mit meiner Mutter verheiratet gewesen und hast sie dann nicht mehr gewollt. Oder sie dich nicht. Ging auch mit Problemen und Ärger los. Vater sagt, das sei passiert, weil du ein bißchen ein Clown bist. Auf englisch hat er mir das gesagt. Auch ich bin für sie nicht besonders wichtig. Für sie ist es am wichtigsten, daß die ganze Zeit völlige Stille im Haus herrscht und alles ordentlich an seinem Platz liegt und daß niemals eine Tür laut zufällt. Jedesmal, wenn eine Tür knallt, schreit sie mich und Vater an. Jedesmal, wenn ein Kugelschreiber nicht da liegt, wo er hingehört, schreit er mich und Mutter an. Jedesmal, wenn die Zahnpastatube nicht ganz zugeschraubt ist, schreien sie beide mich an. Schreien ist nicht richtig – sie weisen darauf hin. Das Motto bei uns lautet: Künftig wäre es sehr angebracht. Oder er sagt ihr auf englisch, sorg dafür, daß das Kind mir nicht zwischen den Beinen herumläuft. Und sie sagt, es ist dein Kind, mein Herr. Als du klein warst, Fima, hast du dir da nicht manchmal insgeheim gewünscht, deine Eltern möchten endlich sterben? Um verwaist und frei zu sein wie Huckleberry Finn? Warst du kein Clownkind?«
»Solche Gedanken gehen wohl jedem Kind mal durch den Kopf«, sagte Fima. »Jedem von uns. Das ist was ganz Natürliches. Aber man meint es nicht wirklich so.«
Dimmi schwieg. Wieder fingen seine Albinoaugen rasch zu blinzeln an, als störe ihn das Licht. Dann fragte er: »Sag mal, Fima, du brauchst ein Kind, stimmt’s? Willst du, daß wir zwei auf die Galapagosinseln fahren und uns eine Blockhütte zum Wohnen bauen? Fische und Muscheln fangen? Gemüse ziehen? Die Schildkröten beobachten, die schon tausend Jahre dort leben? Wie du mir mal erzählt hast?«
Fima dachte: Das sind wieder mal die Sehnsüchte nach der arischen Seite. Nach Karla. Er hob Dimmi auf und trug ihn auf den Armen in sein Zimmer. Zog ihn aus und streifte ihm seinen Pyjama über. Auf den Galapagosinselngibt es keinen Winter. Immer nur Frühling. Und tausendjährige Schildkröten, die fast die Größe dieses Tischs erreichen, weil sie nicht rauben, nicht träumen und keinen Laut von sich geben. Als sei alles klar und schön und gut. Wieder hob er den Jungen hoch und
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