Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
Vom Netzwerk:
trug ihn zum Zähneputzen, und dann stellten sie sich beide an die Klosettschüssel, und Fima sagte, Achtung, fertig, los, und nun ging’s um die Wette, wer zuerst fertig war. Unaufhörlich murmelte Fima wirre Tröstungen, ohne darauf zu achten – macht nix, Kind, der Winter geht vorüber, der Frühling geht vorbei, wir schlafen wie die Schildkröten, und dann stehen wir auf und pflanzen Gemüse an, und danach sind wir nur gut, und du wirst schon sehen, daß es uns gutgeht.
    Trotz dieser tröstenden Worte waren sie beide den Tränen nahe. Ließen einander nicht aus den Armen, als habe die Kälte zugenommen. Statt ihn in sein Bett zu bringen, trug Fima den Jungen im grünen Flanellpyjama huckepack ins Elternschlafzimmer, legte sich zu ihm ins Doppelbett, nahm ihm behutsam die doppeldicke Brille ab, und dann kuschelten sie sich beide unter eine Decke, und Fima erzählte ihm eine Geschichte nach der anderen: über Schleuderschwänze, über die Tiefen der Evolution, über den Fehlschlag des unnützen Aufstands gegen die Römer, über Bahndirektoren und Schienenspurweiten, über die Urwälder Obervoltas in Afrika, über den Walfang in Alaska, über verlassene Tempel in den Bergen Nordgriechenlands, über die Vermehrung von Zierfischen in beheizten Becken in der maltesischen Hauptstadt Valetta, über den heiligen Augustinus und über den bedauernswerten Kantor, der die Hohen Feiertage allein auf einer einsamen Insel verbrachte. Als Ted und Jael um Viertel vor eins aus Tel Aviv zurückkamen, fanden sie Fima in voller Kleidung wie ein Embryo zusammengerollt, in Jaels Decke gewickelt und den Kopf auf ihrem Nachthemd ruhend, im Ehebett vor, während Dimmi im grünen Pyjama, die Brille auf der Nase, im Arbeitszimmer seines Vaters vor dem Bildschirm hockte und konzentriert und tiefernst in einem komplizierten taktischen Spiel ganz allein eine Seeräuberbande überwältigte.

16.
Fima gelangt zu dem Schluß, daß noch Aussicht besteht
    Nach ein Uhr nachts, auf der Heimfahrt in einem Taxi, das Teddy ihm bestellt hatte, fiel Fima der letzte Besuch seines Vaters ein. Vorgestern? Oder gestern morgen? Wie der Alte bei Nietzsche angefangen und mit den russischen Eisenbahnen, die so konstruiert sind, daß die Eroberer sie nicht benutzen können, aufgehört hatte. Was hat er mir zu sagen versucht? Jetzt schien es Fima, als habe sich das Gespräch seines Vaters unaufhörlich um einen Punkt gedreht, den er nicht recht auszudrücken vermochte oder wagte. Vor lauter Geschichten und Pointen, vor lauter Kosaken und Indern hatte er nicht darauf geachtet, daß der alte Mann über Mangel an frischer Luft klagte. Dabei hatte der Vater doch noch nie über Krankheiten geredet, es sei denn, er räsonierte über Rückenschmerzen. Jetzt erinnerte sich Fima an sein Schnaufen und Husten, an das Pfeifen, das ihm wohl aus der Kehle oder aus tiefster Brust kam. Offenbar hat der Alte beim Abschied etwas zu erklären versucht, das du nicht hören wolltest. Du hast dich mit ihm lieber über Herzl und über Indien gestritten. Was hat er dir zwischen seinen Kalauern signalisieren wollen? Andererseits nimmt er aber doch schon seit eh und je mindestens wie Odysseus Abschied. Geht für ein halbes Stündchen ins Café runter und wünscht dir ein sinnvolles Leben. Geht eine Zeitung kaufen und gebietet dir, den Schatz des Lebens nicht zu vergeuden. Was hat er diesmal zu sagen versucht? Hast du verpaßt. Du warst gänzlich in die Genüsse des Wortgefechts über die Zukunft der Gebiete vertieft. Wie immer. Als gelte es nur, ihn in der Diskussion zu bezwingen, und schon sei das Hindernis auf dem Weg zum Frieden weggeräumt, und eine neue Wirklichkeit beginne. Wie als kleiner Junge: ein ungenießbarer, scharfsinniger Junge, der kein tieferes Verlangen kannte, als die Erwachsenen bei einem Fehler zu ertappen. Bei einem Sprachirrtum. Sie in der Diskussion zu besiegen. Die Erwachsenen zu zwingen, die weiße Fahne zu hissen. Ein Gast verwendete beispielsweise den gängigen Ausdruck »die überwiegende Mehrheit des Volkes«, worauf du genüßlich anmerktest, das seien dann wohl die Übergewichtigen des Volkes? Denn zum Überwiegen an sich genüge ja nur einer mehr als 50 Prozent. Dein Vater sagte zum Beispiel, Ben Gurion sei ein ausgesprochener Polemiker, und du meintest berichtigend, sich aussprechen sei was Positives. Und gestern,als er bei dir war, ist ihm doch vor Kurzatmigkeit ein- oder zweimal fast seine klangvolle Tenorstimme weggeblieben. Er ist tatsächlich ein

Weitere Kostenlose Bücher