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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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geschwätziger Alter, ein Geck, Störenfried und Schürzenjäger und noch dazu mit politischer Blindheit der selbstgerechtesten und ärgerlichsten Sorte geschlagen. Aber trotzdem auf seine laute Weise ein großzügiger, wohlwollender Mensch. Stopft dir Geldscheine in die Tasche, während er die Nase in dein Liebesleben steckt und dein Leben zu regeln versucht. Und wo wärst du wohl ohne ihn?
    Das Taxi hielt an der Ampel der Herzlberg-Kreuzung. »Eine Hundekälte«, sagte der Fahrer. »Bei mir ist die Heizung kaputt. Die Scheißampel tut’s auch nicht mehr. Der ganze Staat ist beschissen.«
    »Warum übertreiben?« entgegnete Fima. »Es gibt auf der Welt vielleicht fünfundzwanzig Staaten, die vernünftiger sind als wir, aber dafür auch über hundert korrupte Regime, in denen man uns wegen solcher Reden mit Leichtigkeit erschießen würde.«
    »Sollen die Gojim allesamt verbrennen«, schimpfte der Fahrer. »Alle schlecht. Alle hassen uns.«
    Seltsame Lichter brachen sich auf der feuchten Straße. Zwischen den dunklen Gebäuden schwebten Nebelfetzen. Sobald die dichten Nebelschwaden vom Glanz der Kreuzungslaternen gesprenkelt wurden, gab es ein bleiches, gespenstisches Flackern. Das ist der noga sche-lo me-alma ha-din , der Glanz nicht von dieser Welt, dachte Fima. Der alte aramäische Ausdruck verursachte ihm plötzlich Gänsehaut. Als kämen die Worte von dort, aus anderen Welten, zu uns. Kein Auto fuhr vorbei. Kein Licht brannte in den Fenstern. Der öde Asphaltstreifen, die flackernden Laternenstrahlen, die schemenhaften schwarzen Pinien, die in Regen gehüllt dastanden wie nach dem allerletzten Schlußgebet, weckten ein dumpfes Schaudern in ihm. Als glimme sein Leben dort gegenüber in Nebel und Kälte. Als liege irgendwo in der Nähe, hinter einer der nassen Steinumfriedungen, jemand in den letzten Zügen.
    »Was für eine beschissene Nacht«, sagte der Fahrer. »Und die Ampel will nicht umspringen.«
    »Wo brennt’s denn?« beschwichtigte Fima. »Warten wir halt noch einen Moment. Nur keine Sorge. Ich bezahl’s ja.«
    Als er zehn Jahre alt war, war seine Mutter an einer Gehirnembolie gestorben. Baruch Nürnberg hatte, rasend vor Wut, nicht einmal eine Woche verstreichen lassen: Am Samstag nach der Beerdigung verstaute er in Windeseileihre sämtlichen Kleider, Schuhe und Bücher, ihren Schminktisch mit dem runden russischen Spiegel und das mit ihrem Monogramm bestickte Bettzeug in große Kisten, die er umgehend dem Leprakrankenhaus in Talbiye spendete. Löschte jede Erinnerung an ihre Existenz, als sei ihr Tod ein Akt der Untreue gewesen. Als sei sie mit einem Liebhaber durchgebrannt. Nur ihr Abiturbild ließ er fünffach vergrößern und hängte es über die Kommode. Von dort blickte sie die ganzen Jahre mit skeptischtraurigem Lächeln und schüchtern gesenkten Augen auf die beiden herab. Wie eine reuige Sünderin. Gleich nach der Beisetzung begann Baruch seinen Sohn mit zerstreuter Strenge, unerwarteten Gefühlsausbrüchen und despotischen Launen zu erziehen. Morgen für Morgen prüfte er jedes einzelne Heft in Fimas Ranzen. Jeden Abend stand er mit verschränkten Armen im Badezimmer, um das Zähneputzen zu überwachen. Er zwang dem Jungen Nachhilfelehrer in Rechnen, Englisch und sogar Talmud auf. Brachte manchmal auf schlau eingefädelte Weise zwei oder drei seiner Klassenkameraden dazu, zum Spielen herüberzukommen, um seine Isolation zu durchbrechen. Nur beteiligte er sich dann an jedem Spiel und ließ sich auch dort, wo er sich aus pädagogischen Gründen vorgenommen hatte zu verlieren, soweit mitreißen, daß er seine Vorsätze vergaß und in Jubel ausbrach, wenn es ihm gelang, sie alle zu besiegen. Er kaufte den großen Schreibtisch, den Fima immer noch benutzte. Sommer wie Winter steckte er den Jungen in zu warme Kleidung. All diese Jahre über dampfte der elektrische Samowar bis ein oder zwei Uhr früh. Gepflegte Geschiedene und gebildete Witwen in fortgeschrittenem Alter kamen zu Besuch und blieben fünf Stunden lang. Noch im Schlaf hörte Fima aus dem Salon breite slawische Laute, vermengt mit zuweilen aufflackerndem Gelächter. Oder Schluchzen. Und zweistimmigem Gesang. Mit Gewalt, gewissermaßen an den Haaren, schleifte der Vater den trägen Fima von einer Klasse zur nächsten. Beschlagnahmte die Literatur, die der Junge verschlang, und erlaubte nur Schulbücher. Nötigte ihn zu vorgezogenen und erweiterten Reifeprüfungen. Zögerte nicht, seine verzweigten Beziehungen spielen zu lassen, um

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