Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
Vom Netzwerk:
unterdrückte, »wenn das so ist, langweil dich hier eben bis morgen alleine. Schalom. Ich hab’ genug von dir.«
    Statt sich jedoch davonzumachen, riß er wütend das erstbeste Buch aus dem Regal. Es war ein orangefarbener englischer Band über die Geschichte Alaskas im 18. oder 19. Jahrhundert. Er sank auf die Couch und begann darin zu blättern, bemüht, wenigstens die Bilder in sich aufzunehmen, und fest entschlossen, den kleinen Feind völlig zu ignorieren. Aber er konnte sich nicht recht konzentrieren. Schaute alle Augenblicke auf die Uhr. Die zeigte jedesmal wieder einundzwanzig Uhr fünfundzwanzig, und er ärgerte sich sowohl über die stillstehende Zeit als auch darüber, daß er die Fernsehnachrichten verpaßt hatte. Lähmende Unheilsahnung lag ihm wie ein Stein auf der Brust: Da geschieht etwas Ungutes. Etwas, das du einmal bitter bereuen wirst. Etwas, das noch Jahr und Tag in deinem Innern nagen wird, so daß du wünschtest, du könntest das Rad der Zeit genau bis zu diesem Moment zurückdrehen und den schrecklichen Fehler korrigieren. Könntest das Klare, Einfache, Selbstverständliche tun, das nur ein Blinder oder ein ganz Dummer jetzt nicht tun würde. Aber was? Wiederund wieder blickte er verstohlen zu Dimmi hinüber, der sich in seiner Kissenhöhle auf dem fernen Sessel verschanzt hatte und blinzelte. Schließlich versenkte er sich aber doch in das Schicksal der ersten Walfänger, die aus Neuengland nach Alaska gelangt waren, wo sie Küstenstationen errichteten und häufig von wilden Nomaden, die über die Beringstraße aus Sibirien heranstürmten, überfallen wurden.
    Und dann platzte Dimmi auf einmal heraus: »Sag mal, was ist Gasbrand?«
    »Ich weiß nicht genau«, erwiderte Fima, »das ist der Name einer Krankheit. Warum?«
    »Was für eine Krankheit?«
    »Zeig mir, wo’s dir weh tut. Hol das Fieberthermometer. Ich laß einen Arzt kommen.«
    »Nicht ich«, sagte Dimmi, »Winston.«
    »Wer ist Winston?« Fima begriff, daß das Kind fieberte und daher phantasierte. Zu seiner Überraschung erleichterte ihn diese Entdeckung ein wenig. Wie findet man jetzt einen Arzt? Man könnte Tamar anrufen und sich mit ihr beraten. Gewiß nicht unsere Ärzte. Und auch nicht Annettes Mann. Und was ist Gasbrand nun wirklich?
    »Winston ist ein Hund. Der Hund von Zelil Weintraub.«
    »Der Hund ist krank?«
    »War.«
    »Und du meinst, du hättst dich bei ihm angesteckt?«
    »Nein. Wir haben ihn umgebracht.«
    »Umgebracht? Warum das denn?«
    »Es hieß, er hat Gasbrand.«
    »Wer hat ihn umgebracht?«
    »Bloß ist er nicht tot.«
    »Weder lebendig noch tot?«
    »Lebendig und tot gleichzeitig.«
    »Erklärst du mal?«
    »Kann man nicht erklären.«
    Fima stand auf, legte die eine Hand an Dimmis, die andere an seine eigene Stirn, vermochte aber keinen Unterschied zu fühlen. Vielleicht sind wir beide krank?
    »Es war Mord«, sagte Dimmi. Und plötzlich, als sei er über seine eigenen Worte erschrocken, griff er sich noch ein Kissen, verbarg das Gesichtdarin und begann zu schluchzen. In abrupten, erstickten Stößen, die wie Schluckauf wirkten. Fima versuchte, ihm das Kissen wegzuziehen, aber Dimmi umklammerte es fest und ließ nicht locker, bis Fima aufgab. Und begriff, daß es sich nicht um Krankheit oder Fieber handelte, sondern um Leiden, die geduldiges Schweigen verlangten. Er setzte sich vor den Sessel auf den Teppich, ergriff Dimmis Hand und spürte, daß er selbst den Tränen nahe war und dieses eigenartige Kind mit der dicken Brille und dem papierweißen Haar wie sich selber liebte – seinen Eigensinn, seine Vernunft, die einsame Altklugheit, die ihn stets umgab. Fimas Körper schmerzte förmlich vor lauter unterdrücktem Drang, dieses schluchzende Geschöpf da aus dem Sessel zu schnappen und es fest an die Brust zu drücken. Nie im Leben war seine Sehnsucht, sich an eine Frau anzuschmiegen, so stark gewesen wie jetzt der Wunsch, Dimmi an sich zu pressen. Aber er beherrschte sich und machte keinen Mucks, solange das Glucksen anhielt. Bis Dimmi aufhörte. Und gerade nun, als er verstummt war, sagte Fima zärtlich: »Genug, Dimmi, genug.«
    Das Kind glitt plötzlich vom Sessel in seinen Schoß. Rollte sich hinein, als wolle es sich in Fima vergraben. Und sagte: »Ich werd’s doch sagen.«
    Und begann nun klar mit leiser, gleichmäßiger Stimme, ohne aufzuschluchzen oder auch nur ein einziges Mal nach Worten zu suchen – sogar das Augenblinzeln hatte sich ein wenig beruhigt –, zu erzählen, wie sie den Hund

Weitere Kostenlose Bücher