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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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besteht gegenüber dem Kind. Und diesmal würde er auch nicht klein beigeben, sondern dem Fahrer unterwegs zu ihnen mit aller Macht die Augen öffnen. Starrköpfigkeit und Herzensblindheit davonfegen. Die Gehirnwäsche stoppen. Allen endlich begreiflich machen, wie nah die Katastrophe schon war.
    Da die Taxizentrale nicht antwortete, änderte er sein Vorhaben und rief Annette Tadmor an. Beim zweiten Klingeln legte er allerdings reumütig auf. Um drei ging er ins Bett, das englische Buch über die Geschichte Alaskas in der Hand, das er in seiner Zerstreutheit bei Ted und Jael hatte mitgehen lassen, ohne sie erst zu fragen. Er blätterte hier und da, bis sein Blick auf einen merkwürdigen Abschnitt über die Sexualgewohnheiten der Eskimos fiel: Jeden Frühling wurde eine reife Frau, die im selben Winter verwitwet war, den pubertierenden Jungen im Rahmen der Einführungsriten zur Benutzung freigegeben.
    Zehn Minuten später knipste er das Licht aus, kuschelte sich unter die Decke, befahl seinem Glied, Ruhe zu geben, und sich selber – sofort einzuschlafen. Aber wieder schien es ihm, als laufe draußen auf der leeren Straße ein Blinder umher und poche mit seinem Stock auf Gehsteig und Steingatter. Fima kletterte mit dem festen Entschluß aus dem Bett, sich anzuziehen und hinunterzugehen, um festzustellen, was nun wirklich in Jerusalem sich ereignete, wenn keiner zuschaute. Mit nächtlicher Klarheit spürte er, daß er über alles, was hier in Jerusalem geschah, künftig würde Rechenschaft ablegen müssen. Der abgedroschene Begriff »Nachtleben« verlor plötzlich seinen einfachen Wortsinn. Löste sich in Fimas Gedanken von überfüllten Cafés, erleuchteten Straßen, Theatern, öffentlichen Plätzen, Kabaretts. Nahm dafür eine andere, scharfe, kalte Bedeutung an, die weder Lachen noch Leichtsinn zuließ. Der archaische aramäische Ausdruck sitra de-itkassta , die verborgene, verhüllte Seite, huschte wie ein einzelner Celloton mitten aus dem Dunkel hinter Fimas Rücken vorbei. Ehrfürchtiger Schauder überlief ihn.
    Daher schaltete er Licht an, stand auf und setzte sich in seinen angegrauten langen Unterhosen vor den braunen Schrank auf den Boden. Er mußte Gewalt anwenden, um die verklemmte unterste Schublade aufzukriegen. An die zwanzig Minuten lang stöberte er in alten Notizbüchern, Heften, Textentwürfen, Fotos, Listen und Zeitungsausschnitten, bis er auf eine abgewetzteKartonmappe stieß, die den Aufdruck Innenministerium – Abteilung Gemeindeverwaltung trug.
    Dieser Mappe entnahm er ein Bündel alter Briefumschläge mit zusammengefalteten Schreiben. Begann nun systematisch der Reihe nach jeden Umschlag durchzuforsten, ohne Ausnahmen oder Abkürzungen, fest entschlossen, diesmal nicht lockerzulassen und nicht länger zu verzichten. Und tatsächlich fand er schließlich Jaels Abschiedsbrief. Die Bögen waren mit den Ziffern 2, 3, 4 numeriert. Die erste Seite war also offenbar abhanden gekommen. Oder hatte sie sich vielleicht nur in einen anderen Umschlag verirrt? Dann stellte er fest, daß auch die letzte Seite oder sogar mehrere fehlten. In der Unterhose auf dem Boden lagernd, fing Fima an zu lesen, was Jael ihm damals geschrieben hatte, als sie 1965 ohne ihn nach Seattle aufgebrochen war. Ihre Handschrift war perlfein, weder feminin noch maskulin, sondern rund und fließend. Vielleicht hatte man in den vornehmen Pensionaten des vorigen Jahrhunderts so einmal Schönschreiben gelehrt. Fima verglich im Geist diese saubere Schrift mit seinen eigenen Entwürfen, deren Buchstaben wie ein Haufen in Panik geratener Soldaten wirkten, die einander nach verlorener Schlacht auf der Flucht anrempelten und umwarfen.

18.
»Du hast Dich vergessen«
    ». . . ist furchtbar bei Dir, und ich habe es einfach nicht begriffen. Begreife es heute noch nicht. Keinerlei Ähnlichkeit zwischen dem empfindsamen, versonnenen Burschen, der in den Bergen Nordgriechenlands drei junge Mädchen begeisterte und vergnügte, und dem geschwätzigen, trägen Büroangestellten, der den ganzen Morgen zu Hause ist, nörgelt, mit sich selber herumstreitet, alle Stunde Nachrichten hört, drei Zeitungen liest, die er dabei über die gesamte Wohnung verstreut, Schranktüren auf-, aber nicht wieder zumacht, im Kühlschrank stöbert und sich beschwert, daß dieses und jenes fehlt. Und jeden Abend zu seinen Freunden rennt, ungebeten bei ihnen hineinplatzt, mit unsauberem Hemdkragen und einer Schirmmütze aus der Palmachzeit, bis ein Uhr nachts mit jedem

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