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Der dritte Zustand

Der dritte Zustand

Titel: Der dritte Zustand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amos Oz
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befiel und er begriff, daß dies der allerletzte Moment war, mit dem Tanzen nach der ermüdenden Flöte seiner Frau aufzuhören und anzufangen, sein eigenes Leben zu leben. Jetzt schlief er in den Armen seiner Mätresse in irgendeinem italienischen Hotel, das Knie vielleicht zwischen ihren, wie ein Mensch, dem es wohlgeht. Aber bald schon würde er sicher entdecken, daß auch seine junge Geliebte eine Slipeinlage zwischen Scham und Höschen verbarg. Auch sie süßliche Deodorantdüfte versprühte, um den Geruch ihres Schweißes und Schleims zu ersticken. Und sich vor dem Spiegel mit allen möglichen klebrigen Cremes einrieb. Ja womöglich sogar nachts mit dem Kopf voller Lockenwickler an seiner Seite einschlief – haargenau wie seine Frau. Und ihre Büstenhalter zum Trocknen über den Duschvorhang hängte, von wo sie ihm auf den Kopf tropften. Und natürlich ausgerechnet dann ihre Migränen und Manieren bekam, wenn seine Leidenschaft zu erwachen begann.
    »Mannerheim!« rief Fima plötzlich in höchster Freude mit lauter Stimme, weil er in diesem Augenblick, dank der Manieren jener Mätresse, auf den berühmten finnischen Feldmarschall gekommen war, der mit »M« begannund endete und Tamar den Weg zur Lösung ihres Kreuzworträtsels verbaute. Obwohl es fast zwei Uhr nachts war, beschloß er Tamar anzurufen. Oder vielleicht Annette? Nach einigem Überlegen entschied er sich dafür, den inzwischen abgekühlten Tee aus der Küche an den Schreibtisch zu tragen, und in knapp einer halben Stunde verfaßte er nun einen kurzen Artikel für die Freitagszeitung über die enge Beziehung zwischen der immer unhaltbarer werdenden Lage in den Gebieten und der allgemeinen Gefühllosigkeit, die sich bei uns in allen Lebensbereichen ausbreitet und beispielsweise in unserem Verhalten gegenüber den Herzkranken zum Ausdruck kommt, die oft buchstäblich zum Tode verurteilt sind wegen der überflüssigen Wartezeiten auf die Operationssäle, über deren Ausnutzung in drei Schichten sich die beteiligten Seiten partout nicht einigen können. Oder etwa in unserer Gleichgültigkeit gegenüber der Not von Arbeitslosen, Neueinwanderern, mißhandelten Frauen. Und in der Demütigung, die wir obdachlosen alten Menschen, geistig Behinderten, notleidenden Alleinstehenden zufügen. Vor allem zeigt sich die Verrohung in der aggressiven Grobheit, der man bei uns in Ämtern, auf der Straße, in der Busschlange und vermutlich auch im Dunkel unserer Schlafzimmer begegnet. In Beer Ja’akov hat ein krebskranker Mann seine Frau und seine beiden Kinder ermordet, weil er nicht damit einverstanden war, daß seine Frau streng religiös wurde. Vier junge Burschen aus gutem Hause in Hod Hascharon haben ein geistig behindertes Mädchen vergewaltigt, sie im Keller eingesperrt und drei Tage und Nächte hindurch ununterbrochen mißhandelt. Ein aufgebrachter Vater hat in einer Schule in Afula gewütet, sechs Lehrerinnen verletzt, dem Direktor den Schädel eingeschlagen – nur weil man seine Tochter in Englisch nicht in den Förderkurs aufnehmen wollte. In Cholon wurde eine Schlägerbande festgenommen, die zig Pensionäre über längere Zeit in Angst und Schrecken versetzt und ihnen ihre Geldbörsen geraubt hatte. All das in der Zeitung von gestern. Fima beendete seinen Artikel mit einer düsteren Perspektive: »Gefühllosigkeit, Gewalt und Bosheit schwappen zwischen Staat und Gebieten hin und her, sammeln Zerstörungskraft, verdoppeln sich in geometrischer Folge, richten zu beiden Seiten der grünen Linie Verwüstung an und so weiter. Es gibt keinen Ausweg aus diesem Teufelskreis, es sei denn, wir gehen ohne Aufschub mutig an eine Gesamtlösung des Konflikts – nach dem treffenden Grundsatz, den Micha Josef Berdyczewski 11 vor hundertundeinem Jahr in die einfachen Worte gefaßt hat: ›Die Juden haben das Erstgeburtsrecht auf das Judentum – der lebende Mensch geht dem väterlichen Erbe vor.‹ Dem ist nichts hinzuzufügen.« Das Zitat hatte er vor einigen Jahren in einem Essay mit dem Titel Widerspruch und Aufbau in einem alten Band des Hazwi bei Jaels greisem Vater entdeckt, es abgeschrieben und außen ans Radio geklebt, und nun freute er sich, es endlich zu verwenden. Bei genauerem Überlegen strich er die Worte »Konflikt« und »Teufelskreis«. Strich dann auch wütend »geometrische Folge« nebst »Zerstörungskraft«, konnte sich aber nicht entscheiden, was er statt dessen einsetzen solle. Und verschob es auf morgen. Trotz Tee und Sodbrennentablette ließ

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