Der dritte Zustand
dieses Grauen nur eine indirekte Folge des Geschehens in den Gebieten war.
»Man muß Frieden schließen«, sagte Fima zu dem Fahrer, »so kann’s nicht weitergehen. Meinen Sie nicht, wir sollten uns zusammennehmen und endlich mit ihnen sprechen? Wozu diese Angst vorm Reden? An Worten stirbt man nicht. Und außerdem sind wir im Reden tausendmal besser als sie.«
»Umbringen, solange sie noch klein sind«, meinte der Fahrer. »Sie gar nicht erst die Köpfe heben lassen. Sollen sie den Tag verfluchen, an dem sie so verrückt waren, sich mit uns einzulassen. Ist das Ihr Haus hier?«
Fima bekam es mit der Angst zu tun, weil er nicht sicher war, ob er genug Geld für die Fahrt in der Tasche hatte. Er war ja bereit, dem Fahrer seinen Personalausweis zum Pfand zu geben und am nächsten Morgen anden Taxistand zu gehen, um seine Schuld zu begleichen. Wenn er den Ausweis nur hätte finden können. Einen Moment später stellte sich jedoch heraus, daß Ted Tobias die Sache vorausgesehen und den Mann schon vorher entlohnt hatte. Fima dankte dem Fahrer, wünschte ihm gute Fahrt und fragte beim Aussteigen: »Also was? Bis wann sollen wir Ihrer Ansicht nach uns denn noch gegenseitig umbringen?«
»Meinetwegen noch hundert Jahre. So war das auch zur Zeit der Bibel. Das gibt’s einfach nicht, Frieden zwischen Jude und Goj. Entweder sitzen sie oben, und wir liegen unten, oder sie liegen unten, und wir hocken oben. Wenn der Messias kommt, verweist der sie vielleicht auf ihren Platz. Gute Nacht, mein Herr. Sie brauchen kein Mitleid mit denen zu haben. Lieber sollten hierzulande mal Juden mit Juden Mitleid haben. Da liegt unser Problem.«
Im Treppenhauseingang sah er einen dicken, plumpen Menschen reglos unter den Briefkästen sitzen, ganz zusammengefallen und in einen schweren Mantel gehüllt. Vor Schreck hätte er beinah kehrtgemacht und wäre dem Taxi nachgelaufen, das weiter unten in der Straße gerade beim Wenden war. Einen Augenblick erwog er die Möglichkeit, dieser Elende da sei er selber, der bis zum Tagesanbruch dort ausharren mußte, weil er den Wohnungsschlüssel verloren hatte. Gleich darauf schrieb er diesen Gedanken jedoch seiner Müdigkeit zu: Es war kein Mensch, sondern eine aufgerollte, zerrissene Matratze, die ein Nachbar hier abgesetzt hatte. Trotzdem knipste er das Treppenhauslicht an und kramte fieberhaft in seinen Taschen, bis er den Schlüssel gefunden hatte. In seinem Briefkasten schimmerte irgendein weißes Papier oder ein Brief, aber Fima beschloß, vorläufig darauf zu verzichten und die Sache bis morgen aufzuschieben. Wenn die Müdigkeit, die Verwirrung und die späte Stunde nicht gewesen wären, hätte er das nicht so einfach hingenommen. Er hätte es nicht mit Schweigen übergehen dürfen. Hätte unbedingt versuchen müssen, den Fahrer mit ruhigen, treffenden Argumenten umzustimmen, ohne in Wut zu geraten. Tief unter zahlreichen, mit Grausamkeit und Angst infizierten Schichten flackert sicherlich noch ein Fünkchen Vernunft. Man muß eben daran glauben, daß man das Gute, das beim Erdrutsch verschüttet worden ist, wieder ausgraben kann. Noch besteht Aussicht, ein paar Herzen umzustimmen und hier ein neues Kapitel anzufangen. Jedenfalls haben wir die Pflicht, uns weiterhin darum zu bemühen. Man darf sich nicht geschlagen geben.
17.
Nachtleben
Weil der Taxifahrer den Ausdruck »sie umbringen, solange sie noch klein sind« benutzt hatte, mußte Fima an Trotzkis rätselhaften Tod denken. Betrat die Küche, um vor dem Schlafengehen ein Glas Wasser zu trinken, und lugte in den Müllschrank unter der Spüle, um nachzusehen, ob dort nicht noch mehr Leichen lagen. Als ihm jedoch der Aluminiumglanz des neuen koreanischen Kessels in die Augen fiel, änderte er sein Vorhaben und beschloß, Tee zu machen. Bis das Wasser kochte, verschlang er drei oder vier dicke Scheiben Schwarzbrot mit Marmelade. Und mußte sofort eine Tablette gegen Sodbrennen kauen. Vor dem offenen Kühlschrank stehend, sann er ein wenig über Annettes Unglück nach. Fima empfand es als wohltuend, daß er imstande war, sich in das krasse Unrecht, das man ihr angetan hatte, hineinzuversetzen, an ihrer Kränkung und Verzweiflung Anteil zu nehmen, andererseits aber auch ohne jeden Widerspruch dazu den Ehemann zu verstehen, diesen zuverlässigen, fleißigen Arzt, der sich zig Jahre beherrscht, zuweilen zwischen den Vorderzähnen hindurchgepfiffen und äußerst sanft aufleblose Gegenstände gepocht hatte, bis ihn Angst vor dem nahenden Alter
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