Der Dschunken Doktor
Stadt hinunter, begleitet und verfolgt von einem Heer von Händlersampans und schwimmenden Küchen, die warme und kalte Mahlzeiten anboten. Vom Quai legten ununterbrochen andere Boote ab und brachten Abenteuerlustige zu den Dschunken, zu den ›Massagesalons‹, zu den ›Gesellschafterinnen‹, zu ›Familienessen‹ oder auch schlicht nur zu den Huren, die auf schäbigen oder bunt bemalten Schiffen leben, je nach Preisklasse und körperlichen Vorzügen.
Es gab nichts, was die Schwimmende Stadt nicht zu bieten hatte – mit Ausnahme von Ruhe. Die gab es hier nie. Die meisten der mehr als 15.000 Menschen, die hier lebten, hatten noch nie das Festland betreten. Sie wurden auf den Dschunken gezeugt, geboren, wuchsen auf dem Wasser heran, heirateten, zeugten Kinder und starben. Erst die Todesdschunken brachten sie an Land …
Als Dr. Merker aus der Rikscha steigen wollte, erschien vor ihm ein in einen blauen Anzug gekleideter, mittelgroßer Chinese und verbeugte sich tief. Er trug einen kleinkrempigen Strohhut, den er beim Verneigen vom Kopf riß.
»Ihre ehrenvolle Gegenwart macht uns glücklich!« sagte er in einem guten Englisch. »Darf ich die unwürdige Bitte aussprechen, mir zu folgen?«
Dr. Merker zögerte. Er dachte an Ting Tse-tung, sah sich um, entdeckte aber niemanden, der wie ein Beobachter aussah. Das alles konnte eine Falle sein, aber auch der Beginn eines Abenteuers mit ungewissem Ausgang.
»Wohin?« fragte Merker vorsichtig.
»Das Boot wartet, Sir.«
»Sie bringen mich hin?«
»Nein. Ich Unwürdiger habe nur die Aufgabe, Sie sicher ins Boot zu führen. Sonst weiß ich nichts.«
Merker stieg aus, betrachtete den Rikschafahrer, der noch immer vorgebeugt zwischen seinen Deichseln verharrte, und folgte dann dem neuen Betreuer zum Quai. Dort lag an einem hölzernen Steg ein Sampan.
Wenn ich da einsteige, bricht er auseinander, kentert oder sinkt einfach weg, dachte Merker. Schon der Ruderer sitzt ja halb im Wasser! Wie will er mit dieser Ruine von Boot durch die Dschunkengassen fahren, hinein in die Wellen, die von den Ausflugsschiffen und den anderen, motorgetriebenen Booten erzeugt werden? Eine kräftige Welle, und das Boot zerfällt.
»Das ist es?« fragte Merker und zeigte hinunter.
»Ja, Sir.«
»Aus welcher Dynastie stammt es?«
»Es ist unauffällig, darauf kommt es an. Ich bitte Sie auch, im Sampan den bereitliegenden Seidenmantel anzulegen und den großen Hut aufzusetzen. Es ist nützlich, Sie nicht als Europäer ins Innere der Schwimmenden Stadt zu bringen.«
»Also gut. Mich beruhigt, daß ich ein guter Schwimmer bin.«
Er stieg die steile Treppe hinunter zu dem Holzsteg, betrat vorsichtig den Sampan und wunderte sich, daß das scheinbar baufällige Boot gar nicht reagierte. Es schwankte kaum merkbar. Auch nicht, als Dr. Merker sich auf ein Sitzbrett hockte und sich nach dem auf dem Bootsboden liegenden chinesischen Mantel und Flechthut bückte. Er zog beides an und blickte dann hinauf zum Quai. Der höfliche Chinese winkte ihm zu … es war gleichzeitig das Signal zum Abstoßen des Sampans.
Der Fährmann, ein zerknitterter, in Lumpen gehüllter Chinese, ein mit Lederhaut überzogenes Gerippe, war schweigsam und antwortete auch nicht, als Dr. Merker fragte:
»Wenn wir ins Wasser fallen … gibt es hier Haie?«
Er schwieg auch, als Merker sagte: »Das Rudern muß doch für Sie eine Qual sein. In Ihrem Alter und bei dem Muskelschwund …«
Der knöcherne Chinese blickte über ihn hinweg, betätigte das lange Ruder mit Ruhe und einer rätselhaften Kraft und trieb den Sampan über die Bucht hinüber zu der ersten Gasse der Boat People. Merker verkroch sich in den chinesischen Seidenmantel und drückte den Hut tief in die Stirn. Mitten hinein in das Gewühl der Dschunken ruderte der stumme Fährmann, und über Dr. Merker rauschten Musik, Gerüche aus Hunderten von Küchen, Rufen von Dschunke zu Dschunke, Gesang und Schreien, Hämmern und Sägen und eine Vielzahl anderer Geräusche wie eine alles verschlingende Woge hinweg.
Wenn Sie erst auf dem Wasser sind, braucht man vor Verfolgern keine Angst mehr zu haben, hatte Ting Tse-tung gesagt. Sie werden den Weg, den man Sie zu Yang hinführt, nie wiederfinden. Es wird uns kaum gelingen, Ihnen zu folgen.
Es war wirklich unmöglich, sich Einzelheiten zu merken. Kreuz und quer ging die Fahrt durch die Dschunkenstadt, durch so enge Wassergassen, daß Merker jeden Augenblick erwartete, der Sampan würde steckenbleiben. Dann gab es wieder
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