Der Dschunken Doktor
an, um den Haß nicht einschlafen zu lassen.«
»Für Sie war es Mord, nicht wahr?«
»Es war ein Mord!«
»Und nun hassen Sie einen Unbekannten und richten Ihr ganzes Leben danach aus.«
»Ich kenne den Mörder!« sagte Yang. Ihre schmale Hand streichelte über das Foto, dann klappte sie die Wandtür wieder zu. Es war eine schreckliche Zärtlichkeit, die Merker erschütterte.
»Warum tun Sie dann nichts?« fragte er leise.
»Habe ich Beweise? Ich weiß es, aber Wissen muß belegt werden.« Sie setzte sich auf einen der Diwane, das Kleid spreizte sich an den langen Schlitzen auf. Merker sah ihre langen schlanken Beine bis zum Oberschenkel. Da er nur schimmernde Haut wahrnahm, fragte er sich, ob sie unter dem Kleid überhaupt noch etwas trug. Er mußte gestehen, daß dieser Gedanke ihn nervös machte. Es war eine Situation, in die er noch nie gekommen war. »Sind Sie in Betty Harpers verliebt?« fragte sie plötzlich.
Dr. Merker zuckte zusammen. »Nein! Wie kommen Sie darauf, Yang?«
»Sie könnten dann auch einen schwarzen Panther lieben. Er ist ebensowenig durchschaubar. Immerhin hing sie wie ein Klammeräffchen an Ihnen.«
»Störte Sie das, Yang?«
»Ja.« Ihre Ehrlichkeit verblüffte ihn. Mit diesem Ja gestand sie ohne Zögern, daß sie in Merker mehr sah als nur einen flüchtigen Gast. Es war eine Erkenntnis, die Merker lähmte statt anspornte. Er wußte nicht, wie er sich jetzt verhalten sollte.
»Wissen Sie, daß Sie der erste Europäer sind, der meine Dschunke kennt und betreten hat?« Sie sprach das ganz gelassen aus, eine nüchterne Feststellung, die in Wahrheit eine freimütige Erklärung war. »Es war nicht Tings Vermittlung, wie Sie glauben mögen. Ich hätte Sie auch von mir aus gebeten. Nur hätte es länger gedauert. Ich bin sehr mißtrauisch, Fritz …«
Dr. Merker fühlte, wie ihm leichter Schweiß ausbrach. Du bist das größte Rindvieh, das es unter Männern gibt, sagte er zu sich. Da sitzt du der schönsten Frau gegenüber, sie gesteht dir, daß sie dich mag, und was tust du? Du hockst auf dem Diwan wie ein Primaner, vor dem die Frau des Direktors im Negligé herumläuft und ihn verführen will. Steh auf, geh zu ihr, zieh sie vom Seidendiwan und küsse sie. Nur zweierlei kann passieren: Entweder sie ohrfeigt dich und läßt dich von der Dschunke werfen, oder sie legt die Arme um dich und erwidert deinen Kuß. Damit wird sich deine ganze Welt verändern – und du mit ihr!
Die Angst vor einer Falle, die ihm Ting eingegeben hatte, hielt ihn zurück. Zu geheimnisvoll und undurchsichtig war ihm diese asiatische Welt, um sich ohne Zögern von ihr einfangen zu lassen. Er blieb also sitzen und blickte Yang wortlos an.
»Ich auch …«, sagte er endlich.
»Was heißt das?«
»Auch ich bin mißtrauisch, Yang.«
»Weil Sie so viel wissen …«
»Nein. Weil ich gar nichts weiß!«
»Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, Fritz.« Sie lehnte sich zurück. Das rote enge Kleid spannte sich über Hüften und Brüste. Sie trägt wirklich nichts darunter, durchfuhr es Merker heiß. »Es gab einmal einen Kollegen von Ihnen, den Arzt Dr. Mei Ta-kung. Er wurde auf einer dieser Dschunken hier geboren, ein echter Wasserchinese, der etwas Seltenes tat: Er verließ seine Familiendschunke, ging nach Kanton und Shanghai, studierte dort Medizin, studierte weiter in Los Angeles und auch in Freiburg. Bei Ihnen in Deutschland. Mit drei Arztdiplomen kam er zurück: Chinesisch, amerikanisch, deutsch! Geben Sie zu: Ein Genie!«
»Wirklich ungewöhnlich!« sagte Dr. Merker.
»Er kam zurück nach Yau Ma Tei, getreu der Tradition, daß er zu den Dschunken gehöre. Auf einer neuen Dschunke, die er sich kaufte, eröffnete er eine Arztpraxis … ein richtiger Arzt in der Schwimmenden Stadt! Kein Wunderheiler, Gesundbeter, Magier oder Kräuterheiliger. Sogar einen Röntgenapparat hatte er auf seiner Dschunke. Er wurde wie ein Gott geliebt und verehrt. Tausende hat er umsonst behandelt, oder er bekam ein Huhn dafür, eine eßbare Schlange, Fische, Reiskuchen, Kartoffeln und Körbe voll Gemüse. Er heiratete die Tochter eines Fährkapitäns, bekam eine Tochter, Mei-tien nannte er sie, Pflaumenblütenhimmel … und er war der glücklichste Mensch auf der Welt. Da man ihn überall rief, sah und hörte er viel, und er wurde immer ernster, stiller und nachdenklicher.
Dann starb plötzlich seine Frau … Bei der Rückkehr von einem Besuch ihres Vaters in Chi Ma Wan auf der Insel Lantau, wo ihr Vater ein Haus besaß,
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