Der Dschunken Doktor
Papierdrache, grell bunt und furchterregend aussehend, in dem mindestens sechs Männer steckten und ihn vorwärtsbewegten, wurde von den Hunderten auf der Straße beklatscht. Trommeln wirbelten dumpf, dazwischen wimmerten Flöten und Krummhörner.
Merker lehnte sich wieder zurück. Eine Stadt zum Fürchten und zum Verlieben, dachte er. Wo in der Welt ist das Leben so bunt und überschäumend, so unermeßlich reich und so grausam arm? Hier in Hongkong lebt auf kleinem Raum alles, was ein Mensch sein kann, was man aus ihm machen kann … vom Heiligen bis zum Satan, Hongkong, das ist der Mustergarten unserer Welt. So wie es einen zoologischen und einen botanischen Garten gibt, so gibt es einen menschlichen Garten voll erstaunlicher Vielfalt: Hongkong!
Plötzlich waren sie am Hafen von Yau Ma Tei, dem berühmten Fluchthafen vor den Taifunen, einem riesigen, durch Molen geschützten Becken, in dem sich eine eigene Stadt entwickelt hatte: die Dschunkenstadt.
Das Gewimmel der Menschen war erdrückend. Wie überall in Hongkong und Kowloon, fand bei Einbruch der Dunkelheit der Markt auf der Straße statt. Hunderte von Ständen, beleuchtet von einem in allen Farben schillernden Lichtermeer, boten alles feil, was überhaupt verkäuflich ist, vom chinesischen Liebespulver bis zur Präzisions-Videokamera, von Schlangeneiern bis zum Außenbordmotor.
Wahrsager boten ihre geheimnisvollen Dienste an, Würfelspieler lockten zum Glücksspiel, Orakeldeuter warfen ihre elfenbeinernen Orakelstäbchen in die Luft und weissagten aus der Lage der Stäbchen das kommende Schicksal; Liedersänger hielten ihre Bettelhüte hin, und blinde Straßenmusikanten, die sich erstaunlich sicher in dem Menschengewühl bewegten, zogen durch die Gassen und über den Hafenquai. Schreiber hockten hinter ihren zusammenklappbaren Büros in den Haustüren und fertigten amtliche Schriftstücke für die Schreibunkundigen aus.
Schlangenverkäufer boten ihre sich ringelnde Ware feil, in Flechtkörben bewegten sich die Knäuel der Schlangenleiber, an eisernen Haken und Gestellen hingen die Riesenschlangen, sich hin und her schnellend, sich aufbäumend und in der Luft zusammenziehend.
Vor einigen Juwelierläden, die wie alle Läden in Kowloon zur Straße hin offen waren und ihre gleißenden Reichtümer zeigten, standen Wachen: riesige indische Leibwächter, meistens vom Stamm der Sikhs, mit langen Bärten, verwegen aussehend, bewaffnet mit Pistolen, Revolvern mit Elfenbeineinlagen, Gewehren, deren Schaft mit Silbernägeln oder Halbedelsteinen besetzt war; oder langen Bajonetten, mit denen man einen menschlichen Körper durchstoßen konnte. Ein Überfall auf einen solcherart bewachten Juwelier ist in Kowloon noch nie bekannt geworden.
Dr. Merker zuckte zusammen, als der Rikschafahrer plötzlich anhielt und die Deichsel auf die Straße fallen ließ. Sofort umringten ihn die Straßenhändler, schreiend, gestikulierend, ihn fast aus der Rikscha ziehend. Ein Ausländer allein in dieser Gegend, in der Nacht auch noch, das mußte man ausnutzen.
Ein schriller Schrei des Rikschafahrers verscheuchte sie, als habe er eine Peitsche kreisen lassen. Sie standen nahe an der Mole, und ihnen gegenüber lag die Stadt der Boat People … die Stadt der Wasserchinesen. Die Schwimmende Stadt mit ihren 15.000 Menschen auf Tausenden von Wohndschunken und Sampans, erhellt von zehntausenden Lämpchen auf den Booten, an den Masten, an den Bordwänden und auf den kleinen, knatternden Zubringerbooten, die durch die Dschunkengassen fahren und diese Wasserstadt mit allem Lebensnotwendigen versorgen.
Chinesische Musik ertönte auf hunderten Dschunken, mit dem Wind kam der Duft von gebratenem Fisch und Fleisch herüber, farbige Lichter- und Papierschlangen flimmerten über den Dschunken, wo gerade eine Hochzeit gefeiert wurde oder – was ebenso prächtig war – ein Begräbnis, für das es besonders wertvoll geschnitzte und bemalte Totendschunken gab, auf denen die Holzsärge zum Festland gebracht wurden. Jeden Tag fuhren diese Totendschunken durch die Schwimmende Stadt und sammelten die Toten ein. Die Sargträger waren in feierliches Weiß gekleidet und trugen weiße, breite Stirnbänder um den Kopf.
Der Blick über diese Schwimmende Stadt von Yau Ma Tei war überwältigend. Nichts auf der Welt gleicht dem Erlebnis einer solchen Nacht. Auch Dr. Merker blickte fasziniert über das Lichtermeer auf dem dunklen Wasser. Ein paar Touristenboote fuhren langsam die Hauptgassen der Schwimmenden
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