Der Dschunken Doktor
freiere Flächen, wie Marktplätze an Land, wo flache Sampans als Verkaufsstände lagen. Hier wurde alles angeboten, was man zum Leben brauchte … für die Wasserchinesen, die nie an Land kamen, der Mittelpunkt ihrer Existenz.
Nach einer halben Stunde – so schätzte Dr. Merker – hielt sein Sampan an der hohen, mit Schnitzereien übersäten Bordwand einer breiten, gedrungenen Dschunke, deren Segel zusammengelegt waren. Eine schmale Treppe mit geriffelten Gummistufen war von der Reling heruntergelassen und reichte bis in das dunkle, mit Ölflecken durchsetzte, brackige Wasser. Es roch nach Fisch, Tang und Fäulnis.
»Hier?« fragte Merker ungläubig und blickte an der Bordwand empor. Es war ein großes Schiff, sichtbar wertvoller und gepflegter als die anderen Dschunken, aber es lag so eingekeilt zwischen den anderen Booten, daß Merker sich sagte, Yang Lan-hua könnte sich ein besseres Quartier aussuchen und auch leisten.
Der Alte band den Sampan an der Treppe fest und zeigte auf die Stufen. Dann hockte er sich neben sein Ruder und sank in sich zusammen. Er glich einer Mumie, ebenso alt wie sein Boot, vergessen von allen Lebenden.
Merker blickte noch einmal zur Reling, stieg dann auf die erste Stufe und kletterte die Treppe hinauf. Sie hatte ein Seilgeländer, an dem sich Dr. Merker festklammerte, als die Treppe zu schwanken begann. Am Ende des primitiven Fallreeps erwarteten ihn an Deck zwei in traditionelle chinesische Gewänder gekleidete Männer, die ihn unter die Achseln faßten und an Bord hievten.
»Guten Abend, Sir«, sagte einer von ihnen höflich. Merker fragte sich, ob die Chinesen dieser Sorte sich auch verbeugten und ihre Unwürdigkeit bekundeten, bevor sie einem den Dolch in den Leib stießen. »Willkommen an Bord.«
»Sie können froh sein, daß ich so gelenkig bin!« sagte Dr. Merker.
»Das haben wir vorausgesetzt.« Der Chinese lächelte breit. »Sie machten nie den Eindruck eines unsportlichen Bürgers.«
»Danke.« Dr. Merker sah sich kurz um. Das Deck der Dschunke war von vielen bunten Lichtern erleuchtet. Bänder mit chinesischen Sprüchen flatterten im leichten Wind, der vom offenen Meer wehte. Beim ersten Eindruck unterschied diese sich nicht von den vielen hundert Dschunken, die in der weiten Bucht von Yau Ma Tei dümpelten. Die geballte Masse dieser erleuchteten und mit Fahnen und roten Segeln, Spruchbändern und geschnitzten wilden Drachen geschmückten Boote war das Ziel der Touristenschiffe, die durch die Schwimmende Stadt fuhren. Doch in das Innere der Dschunkenstadt drang kein Fremder vor. Hier war jetzt Dr. Merker die große Ausnahme.
»Aber ich war nie eine Sportskanone.«
»Das ist untertrieben, Sir.« Der Chinese lächelte weiter. Der andere Mann an Deck holte mit einer Handwinde die Treppe ein. »Sie sind ein guter Mittelstreckenläufer, waren Studentenmeister in Heidelberg im Leichtgewicht, sind ein guter Judokämpfer und ein vorzüglicher Schwimmer. Sie sind zu bescheiden, Sir.«
Dr. Merker verzichtete auf eine Antwort. Sie wissen eine Menge über mich, dachte er. Woher? Und wozu? Was hat das alles mit einem Rendezvous mit Yang Lan-hua zu tun, der schönsten Frau, die es auf der Welt gibt … für mich! Auch da muß ich bescheiden sein: Wie viele schöne Frauen kenne ich? Ich bin jetzt zweiunddreißig, und wenn ich ein Liebesalbum führen würde, wären da nur wenige Seiten beschrieben. Keine große Liebe, nur wechselnde Liebeleien. Halt! Da war Dolores! Dolores Mayer, eine echte Hamburgerin, die nur deshalb Dolores hieß, weil ihre Mutter behauptete, sie bei einer Reise durch Spanien, in Sevilla, empfangen zu haben. Die Begeisterung ihres Mannes für eine Fiesta hätte sich derart niedergeschlagen.
Dolores war ein Jahr lang Dr. Merkers Liebe gewesen, bis sie eines Tages sagte: »Ich sehe ein, daß dir deine Viren wichtiger sind. Ich habe keine Lust mehr, dich auch im Bett noch mit Mikroben zu teilen.« Das war das Ende gewesen. Kurz danach kam die Berufung nach Hongkong.
»Darf ich vorausgehen, Sir?« fragte der Chinese.
»Bitte.«
Sie stiegen eine schmale Treppe hinab in den Bauch der Dschunke und kamen in eine Art Zauberwelt. Geschnitzte Fabelwesen bleckten ihnen entgegen, wertvolle Seidenteppiche bedeckten den Boden, hingen an den Wänden. In großen Jadevasen standen frische Blumen, hinter kristallenen Blenden schimmerte gedämpftes Licht. Es war ein Märchenreich, in das Dr. Merker eintauchte. Er war fasziniert, und doch hatte er eigentlich nichts anderes
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