Der Dschunken Doktor
fahren nach dem Essen zu ihm. Zwei Gassen weiter liegt seine Dschunke. Er weiß, daß Sie heute bei mir sind.«
Dr. Merker wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht. Nasser, kalter Schweiß blieb an seinen Fingern kleben. Tings unbestimmte Ahnungen nahmen nun für ihn Gestalt an. Bei den Leberzersetzungen mußte es sich um eine künstlich erzeugte Krankheit handeln, deren Vorläufer eine rauschhafte Veränderung der menschlichen Psyche, der gesamten Persönlichkeit war. Ein Mensch wurde völlig willenlos, eine Marionette in der Hand des unbekannten Verbrechers.
Es klang wie ein Seufzen, als Dr. Merker tief durchatmete. Tings apokalyptische Idee, das Gift oder was es war könne weltweit eingesetzt werden, drückte ihm die Luft ab.
»Yang, ich glaube, ich kann jetzt nichts essen«, sagte er stockend. »Sie haben bestimmt das Beste, was eine Küche zu bieten hat, vorbereitet. Aber ich bringe jetzt keinen Bissen hinunter. Können wir sofort zu Dr. Mei fahren?«
»Natürlich. Mein Sampan liegt bereit.«
»Mit dem uralten Mann am Ruder? Er gibt auf keine Fragen Antwort.«
»Das kann er auch nicht.« Yang sagte es wie eine Belanglosigkeit. »Man hat ihm die Zunge herausgerissen und die Ohren durchlöchert. Er hat viele überlebt, die sprechen und hören konnten. Die Dschunkenstadt, Fritz, hat eigene Gesetze.«
6
Sie waren auf viel Unangenehmes gefaßt, als Herr Tschao sie diesmal in das düstere Hinterzimmer einer chinesischen Garküche in der Wai Ching Street zusammenrief. Es war ein kleiner, muffiger Raum, sie saßen eng zusammengedrückt auf wackligen Stühlen, tranken grünen Tee mit Honig und kamen sich schuldig vor, obwohl keinem von ihnen ein Vorwurf zu machen war.
Die Auswertung der Tonbänder, die alles aufgezeichnet hatten, was die Mikrofone in den Jacketts hatten erreichen können, war nicht nur enttäuschend gewesen. Die ganze Aktion, sonst immer so wirksam, hatte sich als Fehlschlag erwiesen. Nun schwiegen die Mikrofone völlig. Es hatte ein knirschendes Krachen gegeben, dann völlige Stille. Der Elektronikexperte in diesem Kreis hatte es über eine Telefonnummer, deren Besitzer niemand kannte, gemeldet: Man hat die Sender zerstört. Man hat uns entdeckt … Daraufhin erfolgte die Einladung zu dem neuen Treffen in der Wai Ching Street.
Herr Tschao ließ sich Zeit. Ob sie beobachtet wurden, wußten sie nicht. Still tranken sie ihren Tee und warteten. Plötzlich war Herrn Tschaos Stimme im Raum, umgab sie völlig, schien aus allen Ecken zu kommen, erfaßte und lähmte sie.
»Vor zwei Stunden ist Dr. Merker von einem Taxi abgeholt worden«, sagte Herr Tschao streng. »Mir wurde gesagt, es sei unmöglich gewesen, ihn zu verfolgen. Die Mikrofone schweigen, und von der Polizei höre ich, daß die Hirnanalysen neue Erkenntnisse gebracht haben! Wie ist das alles möglich? Zuerst der Medizinexperte …«
Es folgte ein kurzes Schweigen, in dem jeder den Angesprochenen anstarrte. Der Medizinexperte holte aus seiner Tasche einen engbeschriebenen Zettel und glättete das zerknitterte Papier. Sein Gesicht war maskenhaft bleich und starr.
»Man kann von einem Rätsel sprechen …«, begann er.
»Ich liebe keine Rätsel!« unterbrach ihn Herr Tschao kalt.
»Dr. Merker hat das Hirnpräparat in vereistem Zustand bekommen.«
»Schon das war ein Fehler. Warum existierte das Gehirn noch?«
»Es wäre verdächtig gewesen, das Präparat verschwinden zu lassen.«
»Wer denkt denn daran? Man hätte das Hirn gegen ein normales austauschen können.«
»Das … das haben wir nicht in Erwägung gezogen«, sagte der Medizinexperte bedrückt.
»Es wird viel zu wenig gedacht!« Die Stimme von Herrn Tschao wurde scharf. »Warum vergißt man die Lehren Buddhas? ›Im Denken liegt ein Teil des Paradieses‹, sagte er. ›Dummheit liefert uns den Drachen aus.‹ Was wissen Sie über Dr. Merkers Forschungen?«
»Nur das, was aus dem Polizeihauptquartier sickert. Andeutungen …«
»Ich kenne sie. Wenn es etwas Schriftliches gibt, hat es Ting Tse-tung! Ich erwarte Vorschläge.«
Die Stille, die dieser Aufforderung folgte, war niederdrückend und gefährlich. Man starrte vor sich auf den schäbigen Dielenboden und fühlte sich leer und einsam.
Vorschläge! Es gab nur einen, der wirksam war, aber den lehnte der große Herr Tschao ab. Dr. Merker durfte weiterleben, so gefährlich das auch war. Man brauchte die Erkenntnisse seiner Forschungen.
Der Medizinexperte hob den Kopf. Er blickte an die Decke, von der
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