Der Dschunken Doktor
fiel sie auf der Fähre über Bord. Dr. Mei Ta-kung hat sie nie wiedergesehen … sie muß ins offene Meer getrieben sein, wo die Haie sie aufgriffen. Dr. Mei hat nie mehr von ihr gesprochen, aber seit dem Tod seiner Frau war er gebrochen. Er begann zu trinken. Zuerst Wein, später Whisky, zuletzt Wodka … heute alles zusammen! Mei-tien, seine Tochter, war wie sein Augenlicht: Er ließ zu, daß sie auf dem Festland ihr Abitur machte, und sie war nie allein, immer war sie in Begleitung von zwei Jungen aus den Nachbardschunken, die auch die hohe Schule besuchten.«
Yang griff zu ihrem Glas, trank einen Schluck und blickte Dr. Merker an. Ihr wundervolles Gesicht wirkte wie eine zerbrechliche chinesische Porzellanmaske. Ich werde ihr sagen, daß ich sie wahnsinnig liebe, dachte Merker. Ich muß es sagen, sonst wäre ich ein Idiot!
»An einem Abend, als Mei-tien vom Land zurück auf die Dschunke kam, bemerkte Dr. Mei es zum erstenmal: die glasigen Augen, den starren Blick, das maskenhafte Gesicht, die eckigen Bewegungen, das unmotivierte Lachen, die zitternde Hektik. Man sagt, er habe geschrien wie ein verwundetes Tier und habe seiner Tochter das Kleid vom Körper gerissen. Zum erstenmal in seinem Leben schlug er seine Tochter, schlug sie besinnungslos und untersuchte dann die Ohnmächtige Zentimeter um Zentimeter. Er fand nur zwei Einstichspuren, aber die waren älter als eine Woche. Immerhin war es ein Beweis, daß Mei-tien sich mit Heroin vollpumpte.
Dr. Mei Ta-kung setzte sich in sein Ruderboot und fuhr hinüber zu den Dschunken der Eltern der jungen Männer, die mit Mei-tien die High-School besuchten. Auch diese armen Eltern waren wie zerbrochen. Ihre Söhne waren an Land geblieben, ohne Nachricht, ohne Grund, für einen Wasserchinesen der Beweis, daß etwas Ungeheures geschehen sein mußte. Um es vorwegzunehmen: Die beiden Jungen kamen nie wieder, blieben bis zum heutigen Tag verschwunden.«
Yang Lan-hua trank ihr Glas leer und legte den Kopf weit nach hinten. Dr. Merker spürte in sich ein kaltes Kribbeln.
»Sie sind tot?« fragte er stockend.
»Wer weiß das? Die Polizei wurde nur nachdenklich, als man herausbekam, daß von der Klasse, in der Mei-tien war, neunzehn Schüler und Schülerinnen rauschgiftsüchtig gemacht worden waren. Es ist nie herausgekommen, wer ihnen den Stoff besorgt und wer sie an die Nadel gebracht hat. Von den neunzehn sind neun verschwunden, wie Mei-tiens Freunde!«
»Entsetzlich! Und kein Anhaltspunkt?!«
»Es gibt da zwei wesentliche Dinge, die man verstehen muß: Erstens handelt es sich um Wasserchinesen. Wenn die sich aus irgendeinem Grund dezimieren, ist es den Behörden fast recht! Ein Arzt wie Dr. Mei, der Leben verlängert, ist gar nicht gut angesehen. Zweitens: Wo will man mit den Ermittlungen ansetzen? Sie kennen Hongkong gut genug! Suchen Sie da mal einen Dealer, wo Tausende herumlaufen! Kennen Sie die Gegend von Wan Chai, das ›Suzie-Wong-Viertel‹? Die Gegend nördlich der Jordan Road hier in Kowloon? Es ist völlig aussichtslos, wenn man keinen Namen weiß, keinen Hinweis hat, keine kleinste Spur verfolgen kann.«
Yang blickte Dr. Merker lange an, es wurde ihm schon heiß unter der Hirnschale. »Dr. Mei ließ seine Tochter nicht mehr an Land, er sperrte sie auf seiner Dschunke ein. Sie ertrug es ohne die üblichen Entzugserscheinungen. Es war nämlich schon zu spät: Sechs Wochen später starb sie nach vier Wochen Koma. Als man sie obduzierte, sah man, daß ihre Leber völlig zerfallen war …«
»Mein Gott!« Dr. Merker sprang auf. »Wann war das?!«
»Vor drei Jahren. Lange, bevor die Morde stattfanden und die Mörder an Leberzersetzung starben. Damals nahm man den Tod von Mei-tien wie jeden anderen Tod hin. Eine kaputte Leber bei einer Heroinsüchtigen … na, was soll's? Nur für Dr. Mei war mit dem Begräbnis seiner Tochter der Fall nicht erledigt. Er trank, stellte seine Praxis ein, man entzog ihm die Behandlungserlaubnis wegen Alkoholismus, er verkommt jetzt, lebt auf seinem zerfallenden Schiff – und hofft, hofft, hinter das grausame Geheimnis seiner Tochter und der anderen Schüler zu kommen. Durch Zufall … der einzige, der uns hier helfen kann! Und der Zufall ist gekommen.«
»In welcher Art?« fragte Dr. Merker heiser.
»In der Gestalt des deutschen Arztes Dr. Fritz Merker.«
»Himmel! Was erhofft ihr alle von mir?! Ich weiß nichts!«
»Wollen Sie Dr. Mei kennenlernen, Fritz?« fragte Yang, ohne auf seine Worte einzugehen.
»Sehr gern.«
»Wir
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