Der Dschunken Doktor
finden!«
Bis zum Abend fuhren sie durch die Wasserstraßen und Gassen, soweit das möglich war. Es gab so enge Gassen, daß kein Polizeiboot hindurchkam, oft lagen zehn oder mehr Wohndschunken als ein fester Wohnblock zusammen, mit Brücken und Stegen miteinander verbunden. Ein Labyrinth, in das keiner eindringen konnte, der nicht hier geboren war.
Bei Einbruch der Dunkelheit gab Ting entnervt auf. Er wußte für Merkers Verhalten keine Erklärung mehr, denn er vergaß völlig, daß Dr. Merker ja nichts wissen konnte von dem Mord an Mr. John Sayman und der Lastwagenbombe, die Tings Haus in die Luft jagte. Für Merker war die Welt an Land in Ordnung. Das Elend auf dem Wasser war seine Sache geworden.
9
Herr Tschao war sehr unzufrieden. Jeder sah das ein, er hatte allen Grund dazu, und alle, die sich an diesem Abend drüben in Hongkong, im Hinterzimmer des Lokals ›Zum Grünen Tiger‹ versammelt hatten, fühlten sich mitschuldig, auch wenn sie keine Schuld hatten. Sie hatten wie immer ihre Wagen im weiten Umkreis, bis zu den Quais von Wan Chai, geparkt, und waren dann ziemlich bedrückt in die Luard Road geschlichen.
Hier kam Herr Tschao schnell zur Sache, ohne Einleitung, mit einer geradezu schneidenden Stimme. Man hatte ihn so böse noch nie erlebt. Selbst bei den Todesurteilen hatte seine Stimme immer eine bestimmte Milde bewahrt. Sie klang väterlich, auch wenn sie Leben auslöschte.
»Es war befohlen, beide Aktionen zeitgleich auszuführen!« sagte Herr Tschao. Es war, als schwinge er dabei eine Peitsche. »Mao, berichten Sie, warum das Mädchen zehn Minuten früher kam.«
Der mit Mao Angeredete erhob sich, verneigte sich ganz tief zu dem Lautsprecher hin und legte die Arme gekreuzt über die Brust.
»Ich weiß es nicht, Herr Tschao«, antwortete er heiser vor Angst.
»Das gibt es nicht. Das ist keine Antwort! Sie hatten doch eine Uhr, die auf die Sekunde genau ging?!«
»Ich kann es mir nur so erklären, daß die Programmierung des Gehirns durch irgendeinen inneren Widerstand um ein paar Minuten verzögert wurde. Man kann das nicht von außen sehen, Herr Tschao, das Medium erscheint einsatzbereit … man muß wohl mit einer Toleranz des seelischen Mechanismus rechnen. Das war uns allen neu. Menschen bleiben nun doch einmal Lebewesen und werden keine Maschinen.«
»Und warum kam das Wäscheauto so viel zu spät?« schnitt Herr Tschao diese Diskussion ab. »Lua, erklären Sie!«
»Das lag nun wirklich nicht in unserer Hand.« Lua erhob sich und verneigte sich auch sehr demütig. »Wir haben vorher die Strecke abgefahren und die Zeiten gemessen bei Berücksichtigung aller Verkehrsstockungen. Als es zum Einsatz kam, hatte man eine halbe Stunde vorher ein Straßenstück wegen eines Rohrbruches gesperrt und den gesamten Verkehr umgeleitet. Es war unmöglich, den geraden Weg durch die Baustelle zu nehmen, die Polizei hätte den Wagen sofort aufgehalten. Der Wagen mußte den Umweg nehmen, geriet dadurch in weitere Stockungen und verlor viel Zeit. Wir konnten gar nichts mehr ändern …« Lua erhob beteuernd beide Hände. »Herr Tschao, wer konnte mit einem Rohrbruch rechnen? Wir sehen ein, es ist alles falsch gelaufen.«
»Es war eine Niederlage, die uns nicht mehr passieren darf!« sagte Herr Tschao kalt. »Immerhin haben wir erreicht, daß große Unruhe ausgebrochen ist. Alle Fehlleistungen aber werden übertroffen von der Tatsache, daß das Mädchen noch bei der Polizei ist. Ich frage den medizinischen Sachverständigen, wie das möglich ist?«
»Kommissar Ting hält sie fest.« Der Mediziner erhob sich. Seine Verneigung war weniger demütig. Er war in diesem Kreis der wichtigste Mann, und er wußte es.
»Als Sterbende? Er muß sie in ein Hospital bringen!«
»Er hat es bis heute nicht getan. Auch Dr. Merker ist nicht gerufen worden.«
»Das weiß ich. Er ist seit zwei Tagen nicht im Hospital gewesen. Was vermutet man dort?«
»Nichts. Man glaubt, er sei irgendwo in weichen offenen Armen hängengeblieben.«
»Ist ihm das zuzutrauen?«
Der Mediziner lächelte breit und hob die Schultern. »Wir kennen unsere Hongkong-Mädchen, Herr Tschao. Warum soll eine von ihnen nicht auch Dr. Merker aus dem moralischen Gleis werfen?«
»Wann muß nach Ihrer Meinung Ting das Mädchen an eine Klinik abgeben?«
»Das ist schon längst fällig! Sie muß seit vierundzwanzig Stunden zusammengebrochen sein. Was Ting da tut, ist medizinisch unmöglich! Spätestens morgen muß er sie ins Hospital bringen lassen. Sie
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