Der Dschunken Doktor
wurde heroinsüchtig und verschwand eines Tages. Seine Mutter ist voriges Jahr gestorben, sein Vater lebt noch auf der Dschunke. Seine Schwester fährt einen Gemüsesampan und beliefert die vornehmen Wohnboote.«
»Mein Gott, wir haben eine Spur …«, stammelte Dr. Merker. »Wir haben endlich eine Spur! Ting hat mit seiner Ahnung recht behalten!«
Von jetzt ab hielten sie sich nicht mehr lange bei den einzelnen Fotos auf. Sie blätterten sie schnell durch. Im dritten Album war es die vierte Mörderin, bei der Dr. Mei den Kopf nach hinten warf und die Augen mit den Händen bedeckte.
»Li Han-hing. Ihre Eltern ertranken bei dem großen Taifun am 2. August 1979. Es war der Wirbelsturm ›Hope‹. Meterhohe Wellen rissen die Schiffe weg, Sampans und Dschunken wurden in die Luft geschleudert. Es war die Hölle. Kurz danach war Li verschwunden. Um so etwas kümmert sich hier niemand. Wird an Land gegangen sein und eine Hure werden, denkt man. Für die Wasserchinesen ist das Land verflucht.« Dr. Mei nickte ein paarmal. »Ja, es ist Li! Ich erkenne sie wieder. Sie wollte Tänzerin werden auf einem der Ausflugsschiffe.«
»Und ist eine Mörderin geworden … und ein Opfer der Unterwelt von Kowloon oder Hongkong. Sie lebte noch neun Tage nach dem Mord. Tod wie üblich. Mei, wir müssen es sofort Ting sagen!«
»Nein!« antwortete Dr. Mei hart.
»Nicht? Mei, das ist unsere Pflicht!«
»Meine Pflicht ist es, Mei-tiens Tod zu rächen. Kann das die Polizei? Was wird sie mit unseren Hinweisen machen? Sie tappt dumm und blind herum und zerstört alles mit ihrer sogenannten Routinearbeit. Der Gegner aber lacht und geht in Deckung! Fritz, wir haben andere Methoden …«
»Ting verlangt eine Antwort.«
»Hier ist sie: Ich habe keinen erkannt!«
»Das kannst du nicht machen, Mei!« rief Dr. Merker betroffen.
»Wer will mich zu einer Aussage bringen? Ich bleibe dabei: Nichts! Wir aber werden handeln.«
»Das ist doch Irrsinn, Mei! Was können wir denn erreichen? Ein alter, ständig betrunkener Arzt und ein Ausländer, der von Hongkong gerade ein paar Straßen kennt!«
»Das ist unser Trumpf, Fritz! Was niemand weiß: Ganz Yau Ma Tei steht hinter uns. Das ist eine Macht, mein Junge! Geh raus auf Deck, blick dich um! Was du siehst, die Tausende von Dschunken, sind unsere Verbündeten. Sind Zehntausende von Ohren und Augen und Nasen, die für uns hören, sehen und riechen. Was ist dagegen die Polizei, was ist dein Mr. Ting?! Der Polizei werden sie keinen Ton sagen, aber mir. Und nun auch dir, Fritz. Ihrem neuen Dschunkendoktor! Wenn du die Polizei in die Wasserstadt rufst, wird dich keiner mehr anblicken.« Dr. Mei nickte mehrmals und schlug das letzte Album zu. »Man vergißt das immer wieder: Wir haben hier unsere eigenen Gesetze.«
»Jetzt brauche ich einen Drink!« Dr. Merker erhob sich und steckte die Alben in die Segeltuchtasche zurück. »Wo ist der Whisky?«
»Die erste vernünftige Frage seit Stunden. Es stehen zwei Flaschen im Ordinationsschreibtisch …«
»Mei!«
»Für medizinische Zwecke, Fritz!« rief Dr. Mei und warf die dicken Arme hoch in die Luft. »Zur Desinfektion bei Injektionen … ich habe keinen reinen Alkohol mehr. Ist das eine Qual! Wenn ich die Arschbacken damit eingerieben habe, möchte ich sie am liebsten wieder ablecken … so köstlich duftet das!«
Merker ging hinüber ins Behandlungszimmer, fand die Flaschen und tat es Dr. Mei gleich: Er setzte eine an die Lippen und tat einen langen Zug. Der Whisky brannte höllisch in der Kehle, aber er tat auch wohl. Manchmal kann man verstehen, warum einer Alkoholiker wird, dachte Merker. Er gaukelt einen Ausweg vor, und der Verzweifelte greift nach ihm …
Wenig später kam Dr. Mei ihm nach und blieb in der Tür stehen. Er zeigte auf die Flasche.
»Darf ich auch einen?«
»Ja – aber keine bayerische Maß …«
Mei goß das Dreifache von Dr. Merkers Portion in sich hinein und rülpste anschließend wonnevoll. Dann sagte er:
»Wir nehmen uns jetzt einen Sampan und fahren zu Liang Tschangmao.«
»Zu wem?«
»Liang Tschangmao heißt Liang Langes Haar.«
»Eine Frau?«
»Ein Mädchen. Verkauft Blumen am Quai und in den Hafenkneipen. Mit zwölf hat sie angefangen, jetzt ist sie neunzehn. Sieben Jahre … da hört man viel! Das Gehör ist ihr Leben – Liang ist von Geburt an blind. Übrigens liebt sie Smetana. Eine verrückte Welt, nicht wahr? Immer wenn ich ›Die Moldau‹ spiele, lasse ich sie rufen. Dann hockt sie hier, hört andächtig zu
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