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Der Duft des Apfelgartens

Der Duft des Apfelgartens

Titel: Der Duft des Apfelgartens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Willett
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ist sich des Zwiespalts, in dem Schwester Ruth steckt, bewusst, und sie tut ihr sehr leid. Sie erinnert sich an ihre beinahe entrüstete Miene, als sie am Vorabend die Tür geöffnet hat, und den Schock, der rasch darauf folgte. Auch Janna war schockiert, und zwar darüber, Schwester Ruth in einem alten karierten Morgenmantel und ohne die Haube zu sehen. Ihr Haar war die größte Überraschung; dicht, dunkel und lockig schmiegte es sich um den wohlgeformten Kopf. Ohne den Schleier sah sie viel jünger und verletzlicher aus, und zum ersten Mal nahm Janna sie einfach als andere Frau wahr – eine Frau, die verängstigt und ratlos war.
    Schnell folgte sie Janna, betrachtete Schwester Nicola, die inzwischen im Bett lag und tief und fest schlief, und lauschte ungläubig Jannas Geschichte.
    »Wie oft hat Jakey sie denn schon gesehen? Ihr hätte alles Mögliche zustoßen können. Sie hätte stürzen oder auf die Straße wandern können. Gott sei Dank war es gestern Abend warm und trocken!«
    »Ich glaube, alles hat mit dem Vollmond zu tun«, versuchte Janna sie zu beruhigen. »Jakey sagt, dass sie kommt, wenn der Mond scheint. Wahrscheinlich wird sie davon geweckt, genau wie er, und dann steht sie auf und geht zum Pförtnerhäuschen. Gibt es da nicht die Geschichte darüber, dass sie mit einem jungen Mann aus der Gegend verlobt war und die beiden dort leben wollten?«
    Schwester Ruth nickte, den Blick immer noch ängstlich auf die schlafende Gestalt gerichtet. »Das ist sehr, sehr lange her, aber das Gedächtnis spielt ihr Streiche.«
    »Ich bin mir sicher, dass sie jetzt schlafen wird. Wir werden überlegen, was man unternehmen kann. Clem wird nicht darüber reden und ich ebenfalls nicht, außer Sie wünschen es.«
    Wieder nickte Schwester Ruth und biss sich auf die Lippen, und Janna wusste, dass die Nonne nicht viel Schlaf abbekommen würde, sondern aufmerksam auf das Geräusch einer sich öffnenden Tür und Schritte auf dem langen Gang lauschen würde.
    Als Janna jetzt in ihr unglückliches, müdes Gesicht sieht, spürt sie eine neue Welle von Mitgefühl in sich aufsteigen. Sie kann nicht vergessen, wie dasselbe Gesicht – verletzlicher und jünger wirkend – umrahmt von dem kurzen, dunklen Lockenhaar ausgesehen hat.
    »In der Remise wird das einfacher werden«, meint sie begütigend. »Zum einen werden Sie alle im ersten Stock wohnen, und zum anderen könnten sie nachts eines dieser Kindertörchen an der Treppe anbringen. Jeder weiß, dass Schwester Nicola umherwandert, daher wäre das nur eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Und wenn Sie ihr ein Zimmer zwischen Ihrem und meinem geben, könnten wir wenigstens zu zweit aufpassen.«
    Schwester Ruth wirft ihr unter hochgezogenen Augenbrauen einen raschen Blick zu. »Dann bleiben Sie also?«
    Janna umfasst ihre Tasse fester. »Sieht so aus, oder?«, gibt sie betreten zurück. »Um die Wahrheit zu sagen, weiß ich nicht, wie ich mich entscheiden soll.«
    Sie wartet auf eine negative Reaktion, doch Schwester Ruth schweigt. Draußen zanken die Zwerghühner im warmen Sonnenschein, und der alte Obstgarten ist von weichem goldenem Licht erfüllt.
    »Ich bin schrecklich gern hier im Wohnwagen, verstehen Sie«, fährt Janna fort, denn sie fühlt sich – wenn auch widerstrebend – von der Frau, die ihr gegenüber an dem kleinen Tisch sitzt, gedrängt, mehr zu erzählen, ein wenig von sich selbst zu enthüllen. »Ich bin hier unabhängig. Ich kann Gäste einladen und habe nicht das Gefühl, dass wir jemanden stören. Ich habe noch nie irgendwo gelebt, wo ich wirklich für mich war. Das ist etwas ganz Besonderes.«
    Wieder tritt ein kurzes Schweigen ein. Schwester Ruth sitzt da und sieht in ihre Tasse hinunter. »Aber diese Zimmer in der Remise – Ihre Zimmer … Hätten Sie denn dort nicht auch Ihre Privatsphäre?«
    Janna zuckt die Schultern. »Irgendwie schon. Sie sind wirklich hübsch, und ich könnte von Glück sagen, sie zu bekommen, aber es ist nicht dasselbe. Wenn Jakey kommt, singen und spielen wir und machen Krach, und niemand kann uns hören. Ganz so wäre es dort nicht, oder?«
    »Vielleicht«, meint Schwester Ruth mit offensichtlicher Mühe, »würden wir Sie und Jakey ja gern singen hören.«
    Janna lacht. »Aber, aber«, gibt sie fröhlich zurück. »Ich weiß, dass wir Sie auf die Palme bringen. Wir beide.«
    Zu ihrem Erstaunen schaut Schwester Ruth auf und lächelt ihr zu. »Das habe ich wohl verdient«, antwortet sie aufrichtig, »und es stimmt. Ich fühle mich

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