Der Duft des Apfelgartens
sich anzieht, denkt sie über die vertraute Routine des Tages nach, der vor ihr liegt: das Morgengebet und dann die Terz nach dem Frühstück um Viertel vor neun – und dann wird Vater Pascal kommen, um zu Mittag das Abendmahl zu feiern. Er ist ihr Kaplan, teilt sich diesen Dienst allerdings mit einer kleinen Gruppe von Priestern. Heute wird er zum Mittagessen bleiben, und Clem und Janna ebenfalls. Schwester Emily sitzt auf der Bettkante, um die Schuhe anzuziehen, und hält inne, um Gott für Janna und Clem zu danken. Wie würden sie ohne die beiden zurechtkommen? Chi-Meur hat zahlreiche gute Freunde, Reisegefährten und Laienhelfer, die das Kloster auf vielerlei Art unterstützen, aber Clem und Janna gehören inzwischen untrennbar zu diesem Ort. Sie arbeiten und streben an der Seite der Gemeinschaft, und jeder von ihnen befindet sich auf einem besonderen Pfad der Suche.
Pilger, denkt sie. Wir sind alle Pilger.
Sie spürt Jannas inneren Zwiespalt zwischen ihrem Bedürfnis, hierher zu gehören, und ihrer Angst davor, eine Verpflichtung einzugehen; bald, sehr bald wird sie sich diesem Konflikt vielleicht direkter stellen müssen. Clem befindet sich auf einer anderen Pilgerfahrt. Er hat auf einen Ruf geantwortet, eine Berufung, Gott als Geistlicher zu dienen, ist aber von diesem Weg abgekommen. Jetzt hinterfragt er diese Entscheidung, während er immer noch nicht in der Lage ist, den Groll zu überwinden, in den ihn sein Verlust gestürzt hat. Unterdessen nimmt Chi-Meur die beiden und auch den kleinen Jakey an und umgibt sie mit Sicherheit und Liebe. Aber wie viel länger kann das noch so gehen? In der Kapitelversammlung hat Mutter Magda darüber gesprochen, wie schwierig es ist, ihr Leben auf Chi-Meur weiterzuführen: die finanziellen Verpflichtungen, ihre Schwäche. Sie hat ihnen erklärt, jemand sei an sie herangetreten, der sehr interessiert an dem Anwesen sei. Er habe gefragt, ob es irgendwo eine Gemeinschaft von Schwestern gebe, mit der sie sich zusammentun könnten; er sei bereit, sich großzügig zu erweisen.
»Verkaufen? Chi-Meur verkaufen? Dürfen wir das denn überhaupt?« Die Schwestern wechselten nervöse Blicke.
»Ich glaube, wir dürfen verkaufen. Wir sind schließlich alle bevollmächtigt, und es ist uns gestattet, über das Vermögen zu verfügen. Chi-Meur gehört der Christkönig-Gesellschaft, und ich vermute, dass das Geld einfach in die Bank der Gesellschaft eingeht oder für unseren Unterhalt in einem anderen Haus verwendet wird«, antwortete Magda.
»Aber Chi-Meur zu verlassen …« Emily war schockiert. »Ich lebe seit über sechzig Jahren hier. Du auch, Magda.«
»Ich weiß, dass keine von uns das will«, gab Magda beinahe verzweifelt zurück, »doch es ist sehr schwierig geworden. Sogar mit Clem und Janna kommen wir gerade eben zurecht, und falls eine von uns ernstlich krank werden sollte …«
Keine von ihnen sah Nicola an, die lächelnd und mit leerem Blick dasaß. Ruth sorgte dafür, dass sie gewaschen und frisch angezogen war, aber es war sehr anstrengend, sie im Auge zu behalten, und was, wenn eine der anderen ausfiel? Angst stieg zwischen ihnen auf wie ein kalter Luftzug, und sie, Emily, war ein wenig näher ans Feuer gerückt.
»Da wären die Schwestern in Hereford«, schlug Ruth vor. »Ihre Gemeinschaft ist klein, jedoch größer als unsere, und sie haben ein gutes Netzwerk von Unterstützern.«
»Das stimmt«, pflichtete Magda ihr bei, »obwohl ich weiß, dass unter ihnen auch etliche kranke und ältere Schwestern leben. Möglich, dass sie sich nicht in der Lage fühlen, Nicola mitzuversorgen.«
Instinktiv streckte Ruth schützend die Hand nach der unbeweglichen Gestalt vor ihr aus; Nicolas Betreuung hatte eine besondere Liebe in ihr entstehen lassen, ähnlich der einer Mutter, die für ein schwaches Kind sorgt. Zärtliche Gefühle hat sie erst spät in ihrem Leben entwickelt, und sie ist immer noch scharfzüngig und überempfindlich, aber Nicolas Hilflosigkeit, ihre Sanftheit und Dankbarkeit haben Ruths eifersüchtiges, furchtsames Herz berührt.
»Sollen wir die Frage in unsere Gebete einschließen? Aber sagt niemandem sonst etwas davon.« Magda schloss die Versammlung, und sie standen beklommen auf. Ruth half Nicola, die mithilfe ihres Stocks langsam dahinschlurfte, und die anderen gingen zurück an ihre jeweilige Arbeit.
Jetzt steht Schwester Emily auf und zieht die Vorhänge zurück; draußen ist es noch dunkel. Der lang gestreckte Gebäudeflügel, den ihre
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