Der Duft des Bösen
weißer Fleck auf. Jener Teil seines Gehirns, der weder Analytiker noch Patient war, kannte die Behauptung einiger Fachleute, dass es vor dem Zeitpunkt, zu dem ein Kind zusammenhängend sprechen konnte, praktisch kein Gedächtnis gäbe, denn unser Denken und Erinnerungsvermögen sei an Worte gebunden.
Zu seiner eigenen Verblüffung hörte er sich sagen: »Das ist zu lange her.«
Das hatte er während dieser sonderbaren Sitzungen sicher noch nie gesagt, oder?
»Dann begib dich zu dem bewussten Zeitpunkt«, sagte der Analytiker.
»Ich kann nicht.«
»Du kannst.«
»Wir haben Schule«, sagte er. »Ich bin in der Schule. Ich bin zwölf oder dreizehn. Ich bin glücklich, mir geht es gut. Mein Papa ist krank, sehr krank, er liegt im Sterben, aber ich bin glücklich und fühle mich gleichzeitig schuldig. Schuldig, weil ich glücklich bin. Oh, ich kann nicht, ich kann das nicht!«
»Du kannst.«
»Ich habe Freunde. Andrew ist mein Freund.«
»Weiter.«
»Meine Mutter ist sehr unglücklich, weil mein Vater stirbt. Ich liebe sie. Andrews Mutter geht mit ihr ins Krankenhaus, um ihn zu besuchen. Ich liebe seine Mutter – ich meine, ich liebe meine Mutter … Ich kann nicht weiter, ich kann nicht, ich kann nicht …!«
Jetzt weinte er, und der Analytiker auch. Beide schluchzten herzzerreißend und verschmolzen zu einem Mann, der sich aufsetzte und Tränen in beide Hände vergoss.
Manchmal sah er sich im Fernsehen Dokumentarfilme an und auch politische Sendungen. Eben lief eine Sendung über Jung, doch das ging ihm nach seinem Erlebnis am Nachmittag zu sehr unter die Haut. Damit könne man dem eigenen Verstand schaden, hieß es, und sich buchstäblich zum Wahnsinn treiben. Und genau so hatte er es empfunden. Er würde es nie wieder tun. Die Sendung über Tibet kam in Frage, aber kaum hatte er eingeschaltet, wurde er sehr nervös. Obwohl er den Fernseher ziemlich leise gestellt hatte und kein bisschen schwerhörig war, hatte er Angst, er würde das Telefonklingeln nicht hören. Ähnliches galt auch für einen Gang auf den Dachgarten, obwohl es draußen herrlich war und gar nicht kalt. Noch immer färbten die letzten Sonnenstrahlen den Horizont eines zartvioletten Himmels. Er sah, wie sich ein großer Nachtfalter auf dem Tisch niederließ und seine braunen, ringförmig gezeichneten Flügel ausbreitete.
Er zwang sich, zwei Sendungen mit Kurznachrichten anzuschauen, und »anschauen« war das richtige Wort, denn er hatte den Ton bis auf ein leises Flüstern heruntergedreht. Als um elf Uhr noch immer keiner angerufen hatte, zog er sich aus, streifte seinen Bademantel über und putzte sich die Zähne. Während er sie vor dem Spiegel mit Zahnseide reinigte, fiel ihm wieder die Spange ein, die er früher einmal zur Gebisskorrektur getragen hatte. Beim Gedanken daran schnappte er plötzlich nach Luft. Er merkte, wie er erneut an die Mädchen dachte, besonders an ein Mädchen beziehungsweise an eine Frau, die nicht zu denen gehörte. Er konzentrierte sich auf sie, aber sie verschwand ebenso rasch, wie sie gekommen war, und er spuckte Zahnpasta und Speichel ins Waschbecken. Er ging ins Bett. Der Nebenapparat war eingesteckt und stand auf seinem Nachtschränkchen. Er setzte sich ein wenig auf, las Sueton und überlegte während einiger Gedankenpausen, wie sehr ihn diese Lektüre ohne das drohende Damoklesschwert über seinem Haupt gefesselt hätte. Nach dem Ausschalten des Lichts lag er im Dunkeln da, hellwach. Erneut beschlich ihn dasselbe Gefühl wie beim Fernsehton, nur dass ihn diesmal eine neurotische Furcht gepackt hatte, er könnte im Dunkeln das Telefon nicht klingeln hören. Selbstverständlich musste das Licht wieder eingeschaltet werden. Er würde sowieso nicht schlafen.
Mitternacht, ein Uhr. Was wäre, wenn sie ihren unbekannten Plan aufgegeben hätten? Angenommen, sie hätten kalte Füße bekommen und das Zeug zur Polizei gebracht. Oder nehmen wir mal an, die Polizei hätte sie gefunden, ihr Versteck bei einer Razzia aufgespürt und dabei die Ohrringe samt dem Rest entdeckt. Was dann? Aber dazu käme es nicht, nicht wegen eines Bagatelldiebstahls. Du weißt doch gar nicht, ob es ein Bagatellfall war, murmelte er vor sich hin, du weißt ja gar nicht, was Inez oder diese lächerliche Russin dort unten aufbewahrt hatten. Eine wie die könnte ein Vermögen an Schmuck besitzen. Zwei Uhr. Wenn er doch nur fortlaufen könnte, fort zu seiner Mutter …
Kurz vor drei Uhr klingelte das Telefon. Er hob
Weitere Kostenlose Bücher