Der Duft des Bösen
das gewusst. Hätte es ihn getröstet, oder wäre er noch entsetzter gewesen? Schwer zu sagen. Er spürte nur, dass es jetzt unklug wäre, sich weit vom Telefon zu entfernen. Es könnte um drei Uhr klingeln, aber auch um neun oder später. Er wollte nichts essen und auch nichts trinken, aus Furcht, der Alkohol könnte ihn einschläfern. Was wollte er dann? Diese Frage stellte er sich in dem Glauben, eine wahre Antwort könnte ihm weiterhelfen, doch wenn er absolut ehrlich war – und alles andere wäre ohnehin sinnlos –, dann hatte er nur einen Wunsch: weglaufen und sich verstecken. Leider gab es nirgendwo ein Versteck.
Er suchte sich einige neue Bücher, die er gekauft hatte, ohne bisher hineinzusehen, und begann, eine angeblich hervorragende Biografie über Winston Churchill zu lesen. Als er merkte, dass er lediglich die Buchstaben anstarrte und die Wörter nur dem Umriss nach aufnahm, aber nicht ihren Sinn, ließ er es bleiben und versuchte sich an einem Roman. Das war noch schlimmer. Einer neuen Sueton-Übersetzung gelang es, ihn zu fesseln. Das zügellose Leben und die Ausschweifungen der antiken römischen Kaiser wirkten immer noch faszinierend, was vielleicht daran lag, dass sie immer noch schlimmer waren, egal, wie verdorben und böse man selbst sein mochte. Bei Tiberius zum Beispiel wäre die Ermordung ein paar junger Frauen etwas Alltägliches gewesen.
Das Buch beschäftigte ihn bis nachmittags, dann legte er es weg. Hätte ihn allerdings jemand anschließend um eine genaue Zusammenfassung gebeten, wäre ihm lediglich eine vage Antwort eingefallen. Inzwischen versuchte er, das Telefon mit seiner Willenskraft zum Klingeln zu zwingen, aber vergebens. Er brachte ein Glas Orangensaft hinunter, gemischt mit einem Weinglas voll Wodka. Die befürchtete Müdigkeit stellte sich ein, und er versank in einen quälenden Schlaf.
Das Klingeln des Telefons weckte ihn. Er streckte die Hand danach aus und stieß sein leeres Glas um. Jemand hatte sich verwählt; die Stimme beklagte sich nun wütend bei ihm, weil er nicht die Person war, die sie hatte erreichen wollen. Inzwischen war er hellwach, obwohl es erst halb vier war. Die Mädchen kamen ihm in den Sinn: Gaynor Ray, Nicole Nimms, Rebecca Milsom, Caroline Dansk, Jacky Miller. Wenn es ihm gelänge, das Bindeglied zwischen ihnen zu entdecken, wäre er ein ganzes Stück auf seiner Suche nach dem Grund für seine Taten vorangekommen. Alle waren jung oder noch ziemlich jung, alle Singles (auch wenn er das nicht gewusst hatte), außer Gaynor, die mit einem Mann zusammengelebt hatte. Und alle waren allein die Straße entlang gegangen. Das war alles.
Wieder rief er innerlich jene Empfindungen wach, die er bei ihrem Anblick verspürt hatte, immer die gleiche Empfindung und immer nur für dieses eine, ganz bestimmte Mädchen. Nicht für die aberhundert anderen, die ihm im Laufe eines Tages über den Weg liefen, obwohl sich auch diese, jedenfalls Einzelne davon, allein auf einer einsamen Straße bewegt haben könnten, und er allein hinter ihnen hergegangen sein könnte. Immer wenn er hinter ihnen war, geschah es. Hatte das etwas zu bedeuten? Irgendetwas an ihnen zog ihn an, etwas an ihrem Gang, ihrem Schritt, ihrem Blick über die Schulter, an ihrer Haltung. Und sobald er beziehungsweise sein inneres Auge dieses Etwas unbewusst wiedererkannte, schwollen sein ganzer Körper und seine Seele – jawohl, seine Seele – an und bebten vor Lust. Diese Erregung ließ sich nur ertragen, wenn er sie für den einzigen ihr gemäßen Zweck einsetzte. Mit Sexualität hatte das alles nichts zu tun. Kein sexueller Akt hätte diese Erregung erschöpfend befriedigt. Das Objekt, das sie hervorgerufen hatte, musste – ausgelöscht werden.
Stets brachte ihn die Erforschung seines Innenlebens annähernd bis zu diesem Punkt. Um den Rest aufzudecken, den eigentlichen Grund, musste er noch einen oder mehrere Schritte zurückgehen, aber er brachte es nie fertig. Gelegentlich hatte er Analytiker und Patient gespielt, indem er beide Rollen übernahm. Er hatte sich auf seine Couch gelegt, während sein Schatten-Ich in seinem Sessel Platz nahm. So hatte er Fragen gestellt und beantwortet. Das könnte er zum Zeitvertreib auch jetzt wieder machen. Er legte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Der Analytiker bat ihn, zurückzugehen, vor den Tod seines Vaters, vor die Schulzeit, in seine frühe Kindheit. Das hatte er schon oft versucht, und immer tauchte ungefähr im Alter von drei Jahren ein
Weitere Kostenlose Bücher