Der Duft des Bösen
Sie wusste es nicht. Vielleicht nur deshalb, weil sie sich nicht überwinden konnte, sie zu berühren. Wo sie lagen, war ihr ständig bewusst. In einer Schublade, die zu öffnen sie vermied. Ein flüchtiger Blick auf sein Gesicht auf der Kassettenhülle hatte genügt, und sie war in einem nicht enden wollenden Weinkrampf zusammengebrochen.
Dann, sechs Monate nach seinem Tod, hatte sie den Tiefstpunkt erreicht, das Äußerste an Verzweiflung und hoffnungsloser Sehnsucht. Ihn zu sehen, und sei es auch nur für einen Augenblick, für fünf Minuten, ihn hier im Zimmer zu haben – danach gierte sie förmlich. Sie bildete sich ein, sie könne es nicht länger ertragen, sein Gesicht nicht zu sehen, und sei es auch nur für einen kurzen Blick. Sie würde ins Schlafzimmer gehen und mit Gin alle Schlaftabletten schlucken, die ihr der Arzt verschrieben hatte. Genau in dem Moment – warum, wurde ihr nie klar – erinnerte sie sich wieder an die Videos. Sie konnte diesen kurzen Blick haben, ja, sogar mehr als das. Sie konnte Martin sehen, ihn hören und zuschauen, wie er sich bewegte und ging und sprach. Stundenlang, für immer. Und wenn die Bilder und Worte grauenvoll wären? Schlimmer als jetzt konnte sie sich nicht fühlen.
Mit zitternden Händen zog sie die Kassette aus der Hülle. Es war die erste Folge, die er gedreht hatte: »Forsyth und der Chorknabe«. Der erste Schock war die vertraute Kennmelodie, ein Air von Händel, das sie noch nie in einem anderen Zusammenhang gehört hatte. Doch als der Film einsetzte und die Kamera zu Martin schwenkte, wie er die Treppe zu seinem Büro hinaufging, hatte sie einen lauten Schrei ausgestoßen. Sie konnte nicht anders. Es würde so qualvoll werden, wie sie befürchtet hatte.
Es kam anders. Schließlich war das hier ihr geliebter Ehemann, ihr Liebster, ihr Schatz, der einzige Mann, den sie je wirklich geliebt hatte. Und er, er war hier bei ihr in diesem Raum und sprach zu ihr, das spürte sie. Nur berühren konnte sie ihn nicht, das war der einzige Nachteil, wenn auch ein gewaltiger. Und doch gab ihr dieser Film so viel mehr. Obendrein war es kein einmaliges Ereignis. Nie wieder würde er verschwinden, denn diese Videos konnte sie jederzeit abspielen, so oft sie wollte. Damit besaß sie für immer das Zweitbeste: Martin auf Zelluloid gebannt, sein Lächeln, seine wunderschöne Stimme. Obendrein gab es noch mehr Videos, die sie noch gar nicht hatte, aber die konnte sie sich besorgen. Alles, was er je gedreht hatte, konnte sie bekommen, auf Band …
Statt eines Spaziergangs, der ihr im goldenen Abendlicht nur Bilder bot, die in ihr bittere Nostalgie hervorriefen, konnte sie einen langen Abend mit Martin verbringen.
Die Star Street verläuft in westlicher Richtung und verbindet die Edgware Road mit dem Norfolk Square, dem Bahnhof Paddington und dem St. Mary’s Krankenhaus. Es handelt sich um eine Straße mit ehemals schlichten Reihenhäusern, drei Stockwerke nebst Souterrain. Nur an den jeweiligen Kreuzungen befindet sich an allen vier Ecken im Erdgeschoss ein Ladenlokal. Durch die darüberliegenden drei Stockwerke sind diese Eckhäuser deutlich höher als die übrige Häuserzeile. Da sich dieses Phänomen in exakt der gleichen Weise an drei Straßenkreuzungen wiederholt, handelt es sich dabei eindeutig um ein neues, bewusst eingesetztes architektonisches Element, das sich der unbekannte Planer dieser Häuser im neunzehnten Jahrhundert ausgedacht hat.
Die Straße ist durchschnittlich breit, hat aber nur wenige Bäume, ein Mangel, den die Platanen und Linden im Park am Norfolk Square ausgleichen. Autos säumen die Fahrbahn, denn auch hier gibt es, wie in den meisten Teilen der Londoner Innenstadt, keine andere Parkmöglichkeit. Niemand würde die Star Street als schöne Straße bezeichnen, und doch hat sie ihren eigenen Viktorianischen Reiz. Eine gewisse Symmetrie an den Häusern vermittelt einen angenehmen Eindruck, und die Geschäfte strahlen einen altmodischen Charme aus: ein Haushaltswarenladen, der unvermeidliche Immobilienmakler, ein Frisör, ein Zeitungsladen und »Star Antiquitäten«. Letzteres befand sich an der Ecke Bridgnorth Street.
Schon seit Jahren war das ehemalige Buchantiquariat geschlossen gewesen. Kurz nach Martins Tod starb Inez’ Tante Violet im Alter von zweiundneunzig Jahren und hinterließ ihr ein riesiges altes Haus in Clapham samt Inneneinrichtung, genug viktorianische Möbel, um ein Antiquitätengeschäft zu füllen. Und genau das tat Inez damit
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