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Der Duft des Bösen

Der Duft des Bösen

Titel: Der Duft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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sehenden und doch verständnislosen Augen in den tiefen dunklen Höhlen ihr verwirrt zuwandten, schien er nicht zu wissen, wer diese Frau war. Das genügte. Tränenüberströmt hatte sie Jeremy zugemurmelt, »Ich sehe dich dann zu Hause, Schatz«, und war aus dem Zimmer gerannt.
    Später sollte er sich fragen, ob die Frau, die jetzt hereinkam, dies auch getan hätte, wenn seine Mutter noch da gewesen wäre. Hatte sie sich vielleicht zuvor mit einem Blick durch das kleine Guckloch in der Tür vergewissert? Er erkannte sie wieder. Es war die ehemalige Freundin seiner Mutter, die vor zwei, drei Jahren wegen eines Umzugs aus ihrem Leben verschwunden war. Sie war ein Dutzend Jahre jünger als seine Eltern und sah sehr gut aus. In jenen Tagen entwickelte sich sein Blick für weibliche Schönheit – das war längst vorbei – mit atemberaubender Geschwindigkeit, und er wusste die wohl geformte Figur dieser Frau, ihren blonden Kurzhaarschnitt und die langen, wie für die Strumpfwerbung geschaffenen Beine wohl zu schätzen. Ihr Anblick erregte ihn auf eine Weise, wie er es noch nie erlebt hatte und doch erneut zu spüren hoffte. Obwohl sie garantiert fünfzehn Jahre älter war als er, erschien sie in seinen Augen als ein Mädchen, das gerade so viel Altersabstand zu ihm hatte, dass es aufregend war.
    Anfänglich nahm sie keine Notiz von ihm. Einen Meter hinter der Tür blieb sie stehen, sah seinen Vater, schnappte nach Luft und murmelte: »O Gott«. Jedenfalls bildete er sich das ein. Dann trat sie langsam ans Bett, fiel auf die Knie, ergriff seine Hand und bedeckte sie mit Küssen. Jeremy nahm sie in keiner Weise wahr; genauso gut hätte er gar nicht anwesend oder ein Rollstuhl oder eine zusammengefaltete Tagesdecke sein können. Sein Vater warf ihr einen unendlich liebevollen Blick zu. Das erkannte selbst Jeremy, trotz seiner Jugend. Erkennen war eine Sache, verstehen eine andere. Er war verwirrt und verstand nicht, was er da soeben erlebte. Er fühlte sich wie in einem Traum gefangen und wusste nicht recht, auf welchen mystischen oder übernatürlichen Wegen er in diese Szene gestolpert war.
    »Tess«, sagte sein Vater mit seiner gebrochenen Flüsterstimme. »Tess.« Und dann, mit ungeheurer Mühe: »Lieb, dass du gekommen bist.« Selbst diese wenigen Worte erschöpften ihn. Keuchend schloss er die Augen.
    Eine Weile verlor sich Jeremy in seinen Erinnerungen, dann fand er wieder in die Star Street zurück, stand auf, streckte sich und reckte die Arme über seinen Kopf. Er ging in die Wohnung zurück und goss sich einen starken Gin Tonic ein. Noch ehe er wieder auf den Dachgarten trat, trank er den ersten Schluck. Wie wunderbar dieses erste Geschmackserlebnis war, welchen Energiestoß, welche Inspiration es einem gab! Wie es angesichts dessen zu so etwas wie Alkoholismus kommen konnte, war schwer zu begreifen, denn an Intensität und reinem Genuss ließ sich danach nichts mehr mit diesem ersten Schluck vergleichen.
     
    Er stand auf dem Dach. Sein Blick wanderte über Inez’ Garten und den sich daran anschließenden hinaus. Inzwischen war alles sattgrün und dicht zugewachsen. Ein Busch war über und über mit großen weißen Blütenbüscheln übersät, einen anderen identifizierte er als Fliederbaum. Das Haus, zu dem dieser Garten gehörte, musste in der St. Michael’s Street stehen. Von einem Fenster im oberen Stockwerk aus schaute ein bronzefarbenes Gesicht zu ihm herüber, das ihm vage bekannt vorkam. Woher? Unter welchen Umständen? Dann wich es langsam zurück.
    Er setzte sich wieder. Es gelang ihm nicht, Tess und seinen Vater aus seinen Gedanken zu verbannen. Ein wiedergefundenes Gedächtnis hatte etwas von einem Wunder an sich, woran er zuvor nie geglaubt hatte. In jener Vergangenheit war ein anderes Leben gelebt worden. Die Erinnerung daran hatte er verschlafen, aber jetzt wusste er urplötzlich wieder alles. Wegen eines Parfüms.
    Vielleicht eine halbe Stunde war sie am Bett seines Vaters geblieben. Die meiste Zeit über fiel kein Wort. Beide schauten einander nur versunken an. Auf ihrem Gesicht ein Ausdruck von leidvollem Vermissen und sinnlichem Begehren, auf dem seines Vaters erschreckende Erschöpfung und eine Art hoffnungslose Sehnsucht.
    »Soll ich jetzt gehen?«, hatte er gefragt. Er war verlegen. Für mehr war er noch zu jung.
    »Alex«, sagte sein Vater, denn so hatte er ihn immer gerufen, »bitte, bleib. Bleib und bring nachher Tess nach Hause. Mir wäre wohler, wenn du dich um sie kümmern

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