Der Duft des Bösen
Zusammentreffen zweier Lippenpaare. Ihre Zunge glitt über die verhasste Zahnspange, aber ihm war es egal. Ihr nächster Satz allerdings sollte sich als unklug erweisen. Verschwörerisch flüsterte sie leise: »Das wirst du doch nicht deiner Mutter verraten, oder? Ich meine nicht die Geschichte mit uns, das wäre nicht so wichtig, aber das von mir und deinem Vater.«
Sie hatte sich über ihn gelegt. Vielleicht befürchtete sie – und das mit Recht –, ohne Hilfestellung und aufmunternde Worte wüsste er nicht, was zu tun sei. Aber noch während sie diese fatalen Worte aussprach, dachte er an seine Mutter, die daheim auf ihn wartete und bereits um seinen Vater trauerte. Wahrscheinlich vertraute sie seinem Vater und liebte ihn gewiss von ganzem Herzen. Da wurde seine Erektion schwächer und sackte zusammen, bis sich sein Penis nur noch als schwacher Winzling zwischen seinem und ihrem Bauch kringelte.
»Ach, Liebling«, sagte sie, »was ist denn mit dir los?« Sie begann, seinen Penis zu kneten und zu küssen. Die Steppdecke glitt zurück, und er lag nackt da. In dem Moment fühlte er sich so beschämt und würdelos, dass er glaubte, er müsse sterben, wenn er hier bliebe. Grob schubste er sie beiseite und sprang aus dem Bett.
»Vertrau mir«, meinte sie, »damit komme ich zurecht. Entspann dich einfach und überlass das mir.« Sie begann zu lachen, schaute ihn unverwandt an und deutete auf ihn. Sie schüttelte sich vor Lachen. »Für so etwas bist du wirklich noch ziemlich jung. In deinem Alter, und offensichtlich das erste Mal, da hätte ich gedacht …«
Was in seinem Alter noch nicht hätte passieren sollen und was sie gedacht hatte, hörte er nicht mehr. So lange blieb er nicht. Die zurückgeschlagenen Betttücher gaben diesen Duft frei, der wie eine Welle über ihn hereinstürzte. Er presste seine Kleidung gegen den Leib. Vorher hatte er sich lediglich für seine Erektion geschämt, jetzt fühlte er sich durch das Fehlen derselben doppelt blamiert. Die Badezimmertür stand offen. Er rannte hinein und schaffte es gerade noch rechtzeitig bis zur Toilettenschüssel. Dann übergab er sich.
Sich von ihr zu verabschieden, ja, überhaupt je wieder ein Wort mit ihr zu wechseln, kam nicht in Frage. Er zog sich an, ging nach unten und verließ allein das Haus. Zweifelsohne hatte sie ihn nach Hause fahren wollen. Um sich auszumalen, dass sie sich vielleicht sogar zu einem neuen Stelldichein hätte verabreden wollen, war er zu jung. Leider war er auf den Bus angewiesen, der erst spät kam und dann fast auf dem ganzen Rückweg zu seinem Dorf im dichten Verkehr festsaß. Während dieser Busfahrt dachte er über den Vorfall nach. Seines Wissens war es das letzte Mal, dass er je daran gedacht oder sich erinnert hatte. Bis heute.
Wenn der unterbewusste Wille stark genug ist, wird das Gehirn Erlebtes begraben. Trotz seiner Verletzung wird es die Wunde vernarben lassen und alles tun, damit sie nie wieder aufbricht. Und doch hatte das Parfüm, mit dem ihn dieses Mädchen so großzügig eingesprüht hatte, alles freigelegt, und zwar derart schmerzhaft, dass ihm der Schmerz der frisch blutenden Wunde das Bewusstsein raubte und ihn einige Augenblicke flach legte.
Er hatte alles wieder ausgegraben, und nun wusste er Bescheid. Er wusste, ihre Worte und ihr Lachen, sein Versagen und seine Scham hatten ihn dermaßen gebrandmarkt, dass sein Leben damals eine radikale Wendung nahm. Er hatte mehr als nur einen neuen Lebensabschnitt betreten – eine neue Welt. Genau wie er auch an diesem Vormittag, als er den Duft roch, der gut dreißig Jahre vor ihm verborgen gewesen war, eine andere Welt betreten hatte, die wiederum grundverschieden war.
Noch im Nachdenken – von nun an würde er immer daran denken können – begriff er, warum ihn der Mordimpuls immer dann packte, wenn diese Mädchen vor ihm waren und er hinter ihnen herging. Es war der Duft, den sie trugen. Alle von ihnen benutzten das gleiche Parfüm wie sie, das einmal populär gewesen und lange nicht mehr hergestellt worden war, bis man es vor zwei Jahren wieder aufgelegt hatte. Mit jedem Schritt schwebte es hinter ihnen her und hing in ihrem Kielwasser in der Luft. Entweder als zarte, lang anhaltende Duftspur oder durchdringend schwer.
Er wusste Bescheid. Würde er jetzt damit aufhören können?
25
Inez war darauf bedacht, die Feiertagsbesuche bei ihrer Schwester und ihrem Schwager nicht zur Gewohnheit werden zu lassen, und beschloss diesmal, ins Kino zu gehen und den
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