Der Duft des Bösen
nur den Rhythmus zu ändern. Man brauchte sich ja nur anzusehen, was passiert war, als sie den Versuch gewagt hatte. Wie ein getreuer Hund würde er auf ihrer Türschwelle schlafen, es würde ihm das Herz brechen, und er müsste elendiglich verhungern.
Ein möglicher – und es war mehr als nur eine Möglichkeit gewesen – Liebhaber war jetzt davon abgeschreckt worden. Und rückblickend erkannte sie, dass dies mindestens schon ein weiteres Mal passiert war, seit Will das Haus verlassen hatte, das er mit anderen ehemaligen Heiminsassen teilte. Damals war ihr nicht bewusst geworden, warum sich dieser Mann unerklärlicherweise plötzlich nicht mehr mit ihr getroffen oder sie angerufen hatte. Jetzt war es ihr klar. Und würde nicht auch jeder andere Mann abgeschreckt sein, der nach James käme? Abgeschreckt durch diese unwillkommene Anwesenheit, diesen ungebetenen Gast, der sich beherrschend an sie klammerte und Banalitäten über Wetter und Essen und Frühlingsblumen daherplapperte? Vielleicht erst an einem späteren Punkt der Beziehung, aber früher oder später müsste es doch so weit kommen. Für diese Gedanken hasste sie sich und wusste doch gleichzeitig, dass das die Wahrheit war. Eines konnte sie mit Sicherheit sagen: Solange es Will in ihrem Leben gab – und das würde immer so sein –, konnte es darin nie einen Platz für einen anderen Menschen geben, ob Mann oder Frau, ob Freundin oder Geliebter. In völliger Ahnungslosigkeit hatte er einen Käfig errichtet, sie hineingesetzt und den Schlüssel weggeworfen.
Nach einer fast gänzlich schlaflos verbrachten Nacht war Becky klar, dass sie an diesem Tag nicht zur Arbeit gehen konnte. Auch wenn es nichts gab, was sie zu Hause hätte tun können. Dafür gab es keine Lösung. Solange sie und Will lebten, würde diese Situation andauern. Für immer. Ganz offensichtlich hatte er an Kim Beatty keinen weiteren Gedanken verschwendet. Sie, Becky, war ihm viel lieber. Und sie musste James vergessen und alle anderen Männer gleich mit. Alles war sinnlos. Die Panik war dumpfer Verzweiflung gewichen.
Auch Will hatte einen Sinneswandel durchgemacht. Kaum war sein hoffnungsloser Jammer vergessen, tauchte die Erinnerung an den Schatz wieder auf. Jetzt galt es herauszufinden, wo dieser lag, oder besser, wo sich die Sixth Avenue befand. Über Amerika wusste er Bescheid: wo es ungefähr auf der Weltkarte lag, dass von dort Filme und Fernsehshows kamen und dass die Leute dort anders redeten als er und Becky und Inez und Keith. Die Schauspieler in »Der Schatz in der Sixth Avenue« waren Amerikaner, das konnte man ihrer Aussprache anhören. Bedeutete das, dass die Straße in Amerika lag? Die Sirenen hatten wie die in London geklungen, und doch war er unsicher. Er könnte Becky fragen, aber dann würde sie den Grund wissen wollen. Und damit war er wieder beim Problem der Überraschung. Becky war schlau. Wenn sie wüsste, dass im Hinterhof eines Hauses ein Schatz vergraben war und er danach suchte, würde sie vieles erraten. Und damit wäre es vorbei mit der Überraschung. Während er in der Abbey Road eine Lackschicht in einem Farbton namens »Zuchtperle« auf die Fensterrahmen im Esszimmer auftrug, fragte er Keith: »Wo ist die Sixth Avenue?«
Obwohl Keith wahrscheinlich von dem Film gehört hatte, schien er keinen Zusammenhang zu sehen. »Keine Ahnung, Kumpel. Wo die Fifth Avenue liegt, kann ich dir sagen. In New York.«
»Ich meine die Sixth Avenue«, meinte Will enttäuscht.
Sie widmeten sich wieder ihrer Arbeit, Will seinen Fensterrahmen und Keith den Schranktüren, die er mit Schellack einließ. Zehn Minuten vergingen, dann fragte Keith: »Hast du meine Schwester wieder mal gesehen?«
Warum fragten ihn alle nach Keiths Schwester? »Nein, hab ich nicht.«
Was sollte er nun machen? Für die meisten Leute war es selbstverständlich, einfache Nachforschungen anzustellen: Namen im Telefonbuch nachzuschlagen, die Anfangszeiten von Veranstaltungen herauszufinden, ja, sogar im Internet Fabrikverkäufe und Preise zu ermitteln. Das alles überstieg Wills Fähigkeiten.
Inez könnte ihm helfen, aber irgendetwas Undefinierbares ließ ihn davor zurückscheuen, sie zu fragen. Aber ganz so undefinierbar war es dann doch nicht: Er hatte das vage Gefühl, sie könnte sauer auf ihn sein. Als er sie nach den Straßen in dem Film gefragt hatte, in dem ihr Mann mitspielte, hatte sie zwar nicht direkt sauer reagiert, aber ihm gesagt, er solle still sein und nicht reden. Wenn er es noch
Weitere Kostenlose Bücher