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Der Duft des Bösen

Der Duft des Bösen

Titel: Der Duft des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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sie geschenkt bekommen und der schlanken Linie wegen nie gegessen hatte.
    Während der ganzen Zeit, die er hier war, verbot sie sich jedes Nachdenken. Nicht nur über das Geschehene, sondern auch über die zwangsläufigen Konsequenzen. Ich darf nicht denken, ermahnte sie sich immer wieder, ich darf nicht denken, nicht jetzt. Mittlerweile war das Fernsehprogramm nicht mehr für ihn geeignet, da außer den aktuellen Meldungen jetzt nur Kirchenlieder, ein Bericht über antike Kulturen und ein Krimi zur Auswahl standen. Im Vergleich zu Letzterem waren die Nachrichten das etwas kleinere Übel. Zögernd schaltete sie um und sah, wie auf dem Bildschirm eine vergrößerte Fotografie von Gaynor Ray erschien, auf der sie ihr Amulett trug. Auf ihrer weichen jungen Haut lag das Silberkreuz, ein ziemlich provozierendes Lächeln umspielte ihre Lippen. Dann wurde der Anhänger allein gezeigt. Durch die starke Vergrößerung wirkte er ziemlich verschwommen. Auf den ersten Blick hatte es wie ein nüchternes Kreuz gewirkt, doch jetzt wurden auf der Silberoberfläche ziselierte Blätter sichtbar. Das Foto war wenige Wochen vor ihrem Verschwinden aufgenommen worden. Über Jacky Miller kam nichts. Dass man weder sie noch ihre Leiche finden konnte, hatte keinen Aktualitätswert mehr.
    Becky fuhr Will heim in die Star Street. Obwohl sie wusste, dass sie viel zu viel getrunken hatte, um noch fahrtüchtig zu sein, wollte sie zu diesem Zeitpunkt unbedingt vermeiden, ihn noch mal zu verletzen. Daher brachte sie es nicht übers Herz, ihn einfach wegzuschicken und ihn die schwierige Strecke mit zwei Buslinien oder zu Fuß zurücklegen zu lassen. Es war schon nach elf Uhr, längst Schlafenszeit für ihn, aber er war viel zu glücklich, um darauf zu achten.
    »Wie geht es Kim?«, fragte sie ihn. Das fiel ihr ein, als sie in der Nähe der Abbey Road vorbeikamen.
    Verblüfft schaute er sie an, dann sagte er: »Sie ist die Schwester von Keith. Ihr geht’s gut.«
    »Hast du sie mal wieder gesehen?«
    »Wir sind ins Kino gegangen«, war seine einzige Antwort.
    Sie ging mit ihm zur Tür und stand in dem kleinen Hausflur, während er die Treppe hinaufstieg. Die Art, wie er auf Zehenspitzen schlich, um keinen zu stören, und sich dabei einmal umdrehte und den Finger auf die Lippen legte, ging ihr so nahe, dass sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Dann war er fort und die Tür geschlossen. Wenn sie jetzt geweint hätte, wäre es um ihrer selbst willen gewesen. Aber sie weinte nicht, sondern gestattete ihren unterdrückten Gedanken jetzt, Gestalt anzunehmen.
    Wieder in der Gloucester Avenue, war jeder Einschlafversuch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Dunkeln allein im Bett zu liegen und eine unsichtbare Zimmerdecke anzustarren, wäre das Allerschlimmste. Da war es schon besser, mit einer Tasse Tee in einem weichen Sessel zu sitzen – wenn man sich schon schlecht fühlte, dann wenigstens unter möglichst angenehmen Umständen. Eines stand fest: James hatte sie verloren. Er war fort und würde nicht wiederkommen. Sie konnte es ihm nicht einmal verdenken: Besser, eine mögliche Beziehung zu einem so frühen Zeitpunkt zu beenden, als sie weiter zu vertiefen und dann zu merken, dass man sich auf eine Frau eingelassen hatte, zu deren nahen Verwandten ein drogenabhängiger Herumtreiber gehörte. Sie hatte Verständnis. Trotzdem. Wäre er doch nur ein bisschen nachsichtiger gewesen, hätte er nur ein wenig Geduld gehabt, wäre er doch nur bereit gewesen, abzuwarten … Dafür war es nun zu spät. Ihr erster Gedanke jedenfalls hätte Will gelten müssen und dem, was er durchgemacht haben musste. So etwas dürfte sie nie, nie wieder geschehen lassen. Sie musste ihn einfach ganz selbstverständlich jedes Wochenende einen Tag zu sich einladen.
    Doch noch während dieser Überlegungen merkte sie, wie eine unbekannte Empfindung in ihr aufstieg, scheinbar von unten, quer durch den ganzen Körper, bis es sie schüttelte und zittern ließ. Es dauerte ein wenig, ehe ihr bewusst wurde, was das war: panische Angst. Die Bedeutung ihrer Gedankengänge traf sie mit voller Wucht. Es würde niemals aufhören: Diese wöchentliche Einladung an Will, dieser eine Wochentag, den sie jemandem opferte, mit dem sie sich nicht mehr unterhalten konnte als mit einem zehnjährigen Kind – das alles würde so weitergehen, bis er ein Mann in mittleren Jahren war und sie selbst alt. Bis zu ihrem Tod. Nie würde sie in der Lage sein, sich daraus zu befreien oder auch

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