Der Duft des Bösen
Viertklässlers, aber wie ein ernsthaftes Kind besaß er ein ziemlich gut entwickeltes Moralempfinden. Dazu gehörte, dass man nicht log, sondern die Wahrheit sagte, dass man höflich und nett war. Spekulationen über den wahren Besitzer des Schatzes gehörten nicht dazu, ganz gleich, ob es die Leute waren, die ihn vergraben hatten, oder die Allgemeinheit oder die bestohlenen Juweliere. Solche Fragen waren für ihn viel zu schwierig. Außerdem gehörten Schätze, auch wenn er das nicht hätte ausdrücken können, in Wahrheit in die Welt der Märchen, wo Gesetze, die den Besitz regelten und festlegten, und dass man anderer Leute Hab und Gut nicht stehlen und auch den Finder nicht für den Besitzer halten durfte, nicht mehr galten.
Also sagte er zu Keith lediglich, er würde ihn dann am nächsten Morgen wiedersehen, wenn sie mit einer neuen Arbeit anfingen. Als er noch einmal zurück musste, weil er seine Brote vergessen hatte, war er mit dem unangenehmen Anblick der von ihm ungeliebten Polizisten konfrontiert worden und mit Zeinab, die ihn verlegen machte. Doch jetzt waren alle weg. Unbeobachtet ging er nach oben, kochte sich eine Tasse Tee und aß ein Plunderteilchen. Mittlerweile hatte man auf Sommerzeit umgestellt, auch wenn Will nicht wusste, in welche Richtung man die Uhren verstellt hatte, zurück oder vor. Inez hatte sich seiner zwei Wecker und seiner Armbanduhr angenommen. Bis halb acht würde es nun hell sein. Musste es für sein Vorhaben unbedingt dunkel sein? Nicht wirklich, obwohl es im Film dunkel gewesen war.
Er beschloss, noch vor dem Weggehen sein Abendbrot zu verzehren. Gegen halb sechs kamen Freddy und Ludmilla von ihrem eintägigen Ausflug ans Südufer zurück und legten eine ihrer CDs ein. Fast immer ließ Ludmilla Schostakowitsch laufen, auch wenn Will das nicht erkannte. Er wusste nur, dass es ein großes Getöse gab, das ihm aber nichts ausmachte, obwohl er eine hübsche Melodie oder ein Lied bevorzugt hätte. Dass Jeremy Quick nach Hause kam, hörte er nicht. Der bewegte sich immer ganz leise, und außerdem gingen seine Schritte sowieso in der Schlacht von Leningrad unter. Mit einer Gabel verquirlte Will drei Eier. Als das zu wenig schien, schlug er noch ein viertes hinein. Er toastete Brot und bestrich es mit Butter, öffnete eine Packung Kartoffelchips sowie eine neue Flasche Tomatenketschup und setzte sich zum Essen hin. Als Dessert hatte ihm Becky ein mit Mandelcreme und Marmelade gefülltes Törtchen mitgegeben. Davon aß er zwei Scheiben, die er mit Crème double bestrich. Allmählich schwand das Tageslicht, Schatten krochen über seine Fensterbretter.
Nachdem Will das Geschirr gespült hatte, ließ er, wie es ihm Becky beigebracht hatte, zum Schutz vor Einbrechern ein Licht brennen, zog seinen dicken Dufflecoat an, drehte zweimal den Schlüssel um und ging nach unten. Er nahm nichts mit. Das käme später. Beim Anblick des schwarzhaarigen Polizisten mit dem lustigen Namen, der am Randstein in seinem Auto saß, zuckte er zurück. Doch dann fiel ihm wieder ein, wie er ihn und den Wichtigen heute Vormittag aus Mr. Khourys Laden kommen gesehen hatte. Und daraus folgerte Will, bei Mr. Khoury müssten Diebe gewesen sein. Für diesen Gedankengang war er ziemlich stolz auf sich. Der mit dem lustigen Namen saß hier und sorgte dafür, dass die Diebe nicht zurückkamen.
Will ging die Star Street hinunter, hinein in den Norfolk Square, und bog dann, am Bahnhof Paddington vorbei, in die Eastbourne Terrace ein. Er spazierte über die Bishop’s Bridge, die die große Eisenbahnlinie nach Westen überspannte, und ging nach der Unterführung in die Harrow Road hinein. Unter ihm lagen in glitzernder Dunkelheit die neuen Gebäude von Paddington Basin, halb fertige Hochhäuser, Gebilde aus Beton und Glas, deren fantastische Umrisse, Kurven und Bögen den alten Kanal überragten. Der Anblick des Straßenschildes Sixth Avenue machte ihm so viel Freude wie beim ersten Mal, wenn auch ohne den Überraschungseffekt. Im Film hatte nichts auf die Hausnummer hingewiesen, in deren Hinterhof man den Schatz vergraben hatte. Trotzdem glaubte Will, er würde den Ort von außen her und wegen der Nähe zum Parkplatz wieder erkennen.
Die Sixth Avenue bestand aus einer langen Reihenhauszeile. In den meisten Fällen konnte man unmöglich erkennen, wie die Rückseiten dieser Häuser beschaffen waren. Doch am Ende der einen Häuserzeile und vor dem Beginn einer neuen erlaubte ihm der freie Platz zwischen dem letzten
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