Der Duft des Regenwalds
sah die stolzen Bauten von Palenque, in deren Tiefen sich Geheimnisse verbargen, die einem ehrgeizigen Archäologen zu Weltruhm hätten verhelfen können, wenn er nicht zum Verbrecher geworden wäre. Nun würden diese unbekannten Toten noch eine Weile in Frieden ruhen können, bis jemand anderer sie ans Licht der modernen Welt holte. Alice fragte sich, ob sie diesen Moment noch erleben würde. Sie war durchaus neugierig, zu erfahren, welche Personen in den Grabstätten ruhten, würde den Wunsch von Ix Chel aber respektieren, so wie Patrick es auch getan hatte, und keine anderen Wissenschaftler auf die Möglichkeit eines sensationellen Fundes aufmerksam machen. Die Toten sollten ihren Frieden haben, bis das Schicksal es anders entschied.
Sie streifte ihre Schuhe ab und machte es sich so gemütlich wie möglich. Die Sehnsucht nach Andrés steckte wie ein Stachel in ihrer Brust, der sich mit jedem Tag der Trennung tiefer hineinbohren würde. Julio hatte beschlossen, ihn nach Ciudad de México zu begleiten, anstatt zu den Bohremanns zurückzukehren. Sie würde beide eines Tages wiedersehen, beruhigte sie sich, vielleicht schon im Laufe des kommenden Jahres. Dann drückte sie Mariana an sich, die als Einzige der neu gewonnenen Freunde die Reise nach Deutschland mit ihr antrat.
Doch vielleicht gab es noch jemanden, der mit ihr reiste. In Veracruz war ihr aufgefallen, dass ihre monatliche Blutung seit Wochen überfällig war. Vorher war sie zu beschäftigt gewesen, um darauf zu achten. Sie hatte Andrés nichts davon erzählt, da es vielleicht nur eine Folge der durchlebten Strapazen war. Doch sie staunte, welche Ruhe sie empfand, denn früher hatte die Vorstellung einer möglichen Schwangerschaft panische Angst in ihr ausgelöst. Kinder waren Fesseln, die eine Frau ans Heim ketteten und all ihre anderen Ambitionen zunichtemachten. Doch ein Heim, das sie mit Andrés teilte, glich in ihrer Vorstellung keinem Gefängnis mehr, und sie begann allmählich, ihren eigenen Fähigkeiten stärker zu vertrauen. Sie würde einen Weg finden, auch mit einem Kind an ihrer Seite weiter Bilder zu malen. Nachdenklich strich sie über ihren Bauch, der so flach war wie immer. Auf einmal wünschte sie sich mit aller Kraft, einen Teil dieses klugen, störrischen Indianers mit nach Deutschland nehmen zu können. Doch in diesem Moment wurde die Sehnsucht nach ihm zur Qual, denn sie wusste, dass sie mit jedem Atemzug weiter von ihm fortgetragen wurde.
Schließlich griff sie nach ihrem Skizzenblock, da Malen die bestmögliche Ablenkung gegen die beginnende Trübsal war. Ihre Zeichnung von dem Gesicht der fremden Indianerfürstin tauchte vor ihr auf. Sie stand auf, um ihre Leinwand zu bespannen und die in Veracruz erworbenen Farben auszupacken. Dieses Porträt einer Unbekannten, die vielleicht nur in ihrem Traum jemals existiert hatte, sollte ihr erstes Werk auf der Heimfahrt werden.
Es beginnt, langsam dunkel zu werden, doch wir sind bereits so tief in den Regenwald eingedrungen, dass die Sonne ohnehin nur noch spärlich zu sehen ist. Ix Chel hat mir ein Lager aus Palmblättern geschaffen und mich neben blühenden Nachthyazinthen niedergelegt, in der Hoffnung, der angenehme Geruch möge mich aufheitern. Dann ging sie fort, um Kräuter zu suchen, die mein Fieber senken würden.
Ich glaube nicht, dass sie zurückkommen wird. Ebenso wie ich weiß sie, dass keine Pflanze der Welt mich zu heilen vermag, und je länger sie in meiner Nähe bleibt, desto größer ist die Gefahr, dass die Krankheit auch von ihr Besitz ergreift.
Janaab Pakal, seine Priester, Anhänger und Diener sind weiter den schmalen Pfad entlanggezogen. Ich wurde zurückgelassen, da ich zu langsam war und zudem den Tod in mir trage, vor dem sie alle fliehen wollten. Ix Chel folgte ihnen nicht, obwohl ich ihr erlaubte, mit den anderen weiterzuziehen, falls sie es wünschte. Sie sagte nichts. Es war noch nie ihre Art gewesen, viele Worte zu verlieren. Sie blieb einfach neben mir stehen, während alle Sänften und ihre Träger vom Dickicht verschluckt wurden.
Man hat uns einen Sack mit Früchten überlassen, außerdem in Bananenblätter gewickeltes gehacktes Fleisch. Einer der Diener ließ diese Dinge unauffällig fallen, bevor er weiterzog. Ich glaube, dass er es vor allem für Ix Chel tat, damit sie nicht verhungert und fortgehen kann, sobald ich tot bin. Das war vernünftig von ihm, denn ich kann keine Nahrung mehr bei mir behalten, sodass es Verschwendung wäre, sie mir zu
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