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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Maynard
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erhob Anklage wegen Mordes. Franks Verteidiger, der merkte, dass sie in einer schlechten Position waren, rief gegen Ende des Prozesses noch einen Experten
für Posttraumatisches Stresssyndrom in den Zeugenstand und plädierte für vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit. Zu diesem Zeitpunkt war Frank ohnehin alles egal. Was würde das noch ändern?
    Er bekam zwanzig Jahre ohne Bewährung. Die ersten acht verbrachte er in einer psychiatrischen Klinik. Nachdem man ihn für geheilt erachtete, wurde er ins Staatsgefängnis verlegt. Als er aus dem Fenster sprang, hatte er noch eine Haftzeit von zwei Jahren abzusitzen.
    Aber ich wusste, dass ich irgendwie da rauskommen musste, sagte er. Ich wusste, dass es einen Grund dafür gab. Und ich habe mich nicht getäuscht.
    Der Grund war sie. Meine Mutter. Das konnte Frank damals noch nicht wissen, aber er war aus dem Fenster gesprungen, um sie zu retten.

13
    Meine Mutter bat mich, für sie zur Bücherei zu gehen. Frank und sie wollten gerne ein Buch über Kanada haben. Über die Maritimen Provinzen. Sie dachte sich, es sei am sichersten, wenn ich alleine mit dem Fahrrad hinführe.
    Du begreifst, dass deine Mutter hier bei mir bleibt, nicht wahr, Henry, sagte Frank. Du hast gesehen, dass ich sie schon mal gefesselt habe. Sie befindet sich in einer Geiselsituation.
    Der Tonfall, in dem er diese Worte aussprach, erinnerte mich an das Benehmen meiner Mutter, als mein Vater ein oder zwei Jahre nach der Scheidung irgendeinen Antrag eingereicht hatte und eine Frau, die sich als »Prozesspflegerin« vorstellte, bei uns aufgekreuzt war und meiner Mutter allerhand Fragen gestellt hatte.
    Empfinden Sie Erbitterung und Zorn gegenüber Ihrem Ex-Mann?, hatte die Frau gefragt. Geben Sie diesen Gefühlen Ihrem Sohn gegenüber Ausdruck?
    Ich empfinde keinerlei Zorn oder Bitterkeit gegenüber dem Vater meines Sohnes, hatte meine Mutter geantwortet. (Mit tonloser Stimme und einer Art Lächeln um die Lippen.) Ich denke, er bewährt sich als Vater.
    Und wie würden Sie Ihre Haltung gegenüber der Ehefrau
Ihres Ex-Manns beschreiben? Der Stiefmutter Ihres Sohnes? Meinen Sie, dass Sie jemals einen negativen Einfluss auf die Beziehung der beiden hatten?
    Marjorie ist eine nette Frau, hatte meine Mutter gesagt. Ich bin sicher, dass wir gut miteinander auskommen werden.
    Diese »Prozesspflegerin« sah aber nicht, was danach passierte. Sie war schon weg, als meine Mutter den Kühlschrank aufmachte, den großen Milchkrug herausnahm (Echte Milch. Damals ging sie noch einkaufen.) und ihn dort mitten in der Küche langsam ausschüttete, als gieße sie Blumen.

    Jetzt war die Lage anders, aber ich war mir sicher, dass Frank das Gefühl hatte, genau diesen Satz – sie befindet sich in einer Geiselsituation – in dieser Lage sagen zu müssen. Was ich auch sonst über Frank und meine Mutter denken mochte – dass sie sich in einem Fischerdorf in Kanada verkriechen und mich hier bei meinem Vater und Marjorie zurücklassen wollten –, in einem war ich mir sicher: Frank würde meiner Mutter auf keinen Fall etwas zuleide tun. Wenn er so etwas sagte, dann tat er das nur, um sicherzustellen, dass wir keine Schwierigkeiten bekommen würden, falls man ihn bei uns fand.
    Ich verrate niemandem was, sagte ich und versuchte dabei, meinen Part als verängstigter Sohn genauso überzeugend zu spielen wie Frank seine Rolle als kaltblütiger entflohener Sträfling.

    Die Bibliothek war an diesem Tag überhaupt nur deshalb geöffnet, weil man einen Bücherbasar veranstaltete, um von den Einkünften neue Vorhänge oder so was anzuschaffen. Auf dem Rasen vor dem Gebäude verkauften Frauen Limonade und Haferplätzchen, und ein Clown fertigte Luftballonfiguren an. Überall standen Kisten mit alten Büchern, von Kochrezepten für den Schmortopf bis zur Biografie von Donny Osmond. Die Stimmung war lebhaft und fröhlich, und die Leute redeten hauptsächlich über die Hitze und über Tricks zum Abkühlen. Nicht mit mir natürlich. Es war, als strahlte ich unterschwellig die Botschaft »Fernhalten« aus. Diese ganzen munteren, gesprächigen Leute, die Kekse mampften und Stapel von alten Quizwälzern und Jane-Fonda-Fitnessbüchern (davon gab es gleich drei) durchschauten, konnten natürlich nicht wissen, was sich bei mir zuhause abspielte, aber ich wirkte wohl auch so nicht wie jemand, der sich für Ballonfiguren oder Strandlektüre interessierte. Und das zu Recht.
    Als ich die Treppe hochstieg und ins Gebäude ging, dachte ich mir, dass

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