Der Duft des Sommers
ich wohl der Einzige war, der heute nicht zu einer Grillparty ging, Frisbee spielte, Kartoffeln für einen Kartoffelsalat schnitt oder in einem Pool herumplantschte. Man konnte ja noch verstehen, dass jemand herkam, um sich ein paar Agatha Christies zuzulegen und ein Glas Limonade zu trinken. Aber was für ein Trottel musste man sein, um am letzten Wochenende vor Schulbeginn in der Bibliothek nach Büchern über Prince Edward Island zu suchen?
Erstaunlicherweise war ich aber doch nicht der Einzige.
Das Mädchen saß im Leseraum, wo ich mit meinem Notizblock hingegangen war, um mir Sachen aus den Lexika rauszuschreiben – damals benutzte man noch Lexika. Sie hatte sich in einem der Ledersessel niedergelassen, in denen ich oft selbst herumlungerte. Aber sie saß im Lotossitz da, als meditiere sie, das aufgeschlagene Buch vor ihr. Sie trug eine Brille und hatte ihre Haare zu einem Zopf geflochten. Ihre Shorts waren so kurz, dass man ziemlich viel von ihren sehr dünnen Beinen sah.
Sie musste in meinem Alter sein, aber ich kannte sie nicht. Normalerweise wäre ich zu schüchtern gewesen, um sie anzusprechen, aber vielleicht lag es an diesen Tagen mit Frank – dass er aus dem Fenster gesprungen war und all dieses andere verrückte Zeug gemacht hatte, gab mir irgendwie das Gefühl, wenn die Welt schon so ein irrsinniger Ort war, könnte auch ich mir mal was erlauben. Jedenfalls fragte ich das Mädchen, ob sie hier irgendwo zur Schule ging.
Wir sind grade hierhergezogen, antwortete sie. Ich soll versuchen, dieses Jahr hier bei meinem Vater zu wohnen. Offiziell, weil ich eine Essstörung habe und die sich erhoffen, dass es mir besser geht, wenn ich eine andere Schule besuche. Aber ich glaube, meine Mutter wollte mich bloß loswerden, damit sie ungestört mit ihrem Freund rummachen kann.
Ich weiß, was du meinst, sagte ich. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich mal mit jemandem darüber reden würde, wie mir wegen Frank und meiner Mutter zumute war, aber dieses Mädchen schien Verständnis dafür zu haben. Sie kannte auch niemanden hier, und sie gefiel mir. Man
konnte sie nicht direkt hübsch nennen, aber sie sah aus wie ein Mädchen, das nicht nur an Klamotten oder Jungs interessiert war.
Ich fragte sie, was sie da las. Ich informiere mich über meine juristische Lage, sagte sie. Und über Jugendpsychologie.
Sie vertiefte sich in Formen von Traumata während der Adoleszenz, um ihren Eltern beweisen zu können, dass sie derlei gerade durchmachte.
Das Mädchen hieß Eleanor. Normalerweise lebte sie in Chicago, war aber manchmal schon während der Ferien hier gewesen. Sie ging in die achte Klasse und hatte sich diese tolle Privatschule ausgesucht, wo man hauptsächlich Theater spielte, keinerlei Interesse an Sport hatte und jede Art von Klamotten und sogar einen Nasenring tragen konnte, ohne dass man mit den Lehrern Stress bekam. Aber dann durfte sie doch nicht auf diese Schule gehen.
Meine blöden Eltern meinten, sie hätten das Geld nicht, sagte Eleanor. Also wurde es die Holton Mills Highschool.
Ich bin in der siebten, sagte ich. Henry heiß ich.
Ich hatte einen Stapel Bücher über die Maritimen Provinzen neben dem Ledersessel gegenüber von Eleanor auf den Boden gelegt.
Musst du ein Referat machen oder so?, fragte sie.
So in der Art. Für meine Mutter. Sie will wissen, ob Kanada ein guter Ort zum Leben wäre.
Irgendwas an Eleanor gab mir das Gefühl, dass ich sie nicht anlügen wollte. Meine Mutter und ihr Freund wollen das wissen, fügte ich hinzu. Ich probierte dieses Wort aus,
das ich noch nie vorher benutzt hatte, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit meiner Mutter. Es schien mir nicht gefährlich, das zu sagen. Ein Freund muss ja nicht gleichzeitig ein entflohener Häftling sein.
Und wie findest du das?, fragte Eleanor. Dass du deine Freunde verlassen musst? Ich frage das, weil ich dasselbe machen musste, als ich hierhergeschickt wurde, und ehrlich gesagt finde ich, das ist Kindesmissbrauch. Ich bin zwar kein Kind mehr, aber vor dem Gesetz schon noch. Und dann die psychischen Auswirkungen. Jeder Experte kann dir erzählen, dass es extrem schädlich ist, wenn jemand während der Pubertät neue Bindungen mit Menschen eingehen muss, mit denen er vielleicht gar nichts anfangen kann. Vor allem wenn man – nimm’s mir nicht übel – eine Großstadt mit Jazzclubs und einer Kunstakademie gewöhnt ist, und plötzlich bestehen die Hauptattraktionen im Bowling und Hufeisenwerfen. Wenn ich das meinen
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