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Der Duft von Hibiskus

Der Duft von Hibiskus

Titel: Der Duft von Hibiskus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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ihrer Mutter, ihrer geliebten Mutter, die zerschlagen und bleich wie der Tod auf dem Boden liegt.
    Unendlich langsam öffnet die Mutter die Augen. Ihr Blick sucht den ihrer Tochter, und als sie ihn gefunden hat, lächelt sie schwach.
    »Du bist bei mir«, sagt sie, jedes Wort eine Anstrengung, die fast zu viel ist.
    Sie greift nach Emmas Hand, dann schließt sie die Augen wieder, krampfhaft holt sie Luft, ihre Brust hebt sich, senkt sich.
    Hebt sich nicht wieder.
    Emma kauert neben der Mutter, umklammert ihre Hand, und sie glaubt es nicht, wehrt sich verbissen. Als sie begreift, dass ihre Mutter tot ist, frisst sich der Schock wie Säure durch ihren Körper. Ihr Bauch verkrampft sich, wieder und wieder, und sie hört sich selbst schluchzen und schreien und Ludwig für den Tod der Mutter verfluchen. Dann überwältigt sie der Schmerz, und sie krümmt sich auf dem Boden zusammen.
    Erst als sie wie aus weiter Ferne die Stimme des alten Arztes hört, dass für die gnädige Dame nichts mehr getan werden könne, Gott sei ihrer Seele gnädig, dass aber Emma durchaus noch am Leben sei, trotz der Blutlache unter ihr, kommt sie wieder zu Bewusstsein.
    Durch einen dichten Nebel registriert sie mühsam, was ihr Vater und der Arzt miteinander sprechen, hört »frühes Stadium« und »dennoch sehr wahrscheinlich« und »Gewebeteilchen, die dafür sprechen« und »dieser verfluchte Klavierlehrer« und sieht, wie der Vater sich die Hände vors Gesicht schlägt.
    »Ah, sie ist wach.«
    Der Arzt legt eine Hand auf Emmas Stirn und wiegt bedenklich den Kopf.
    »Das Fieber steigt«, sagt er ernst zum Vater. Rasch, bevor sie wieder wegdämmert, fragt er nach ihrer letzten Periode, wie Ludwig vorhin, und als sie antwortet, nickt er grimmig.
    Der Vater lässt die Hände sinken und schaut seine Tochter an, als sehe er sie zum ersten Mal. Sein Blick irrt zwischen ihr und seiner verstorbenen Frau hin und her.
    »Du, deine eigene Mutter und dieser Heyn«, flüstert er. »Eine Ménage-à-trois unter meinem Dach. Das ist so … so unwürdig! Und jetzt ist sie tot. Mein Gott. Mein Gott!«
    Die Hitze des Fiebers überwältigt Emma. Als sie erneut das Bewusstsein verliert, spürt sie für den Bruchteil einer Sekunde Dankbarkeit für die gnädige, alles umfassende Schwärze.
    Dann ist auch dieses Gefühl erloschen.
    Als Emma wieder wahrnahm, wo sie sich befand, war in ihr nur Platz für einen einzigen Gedanken.
    Meine Mutter ist tot.
    Sie roch den Duft des Eukalyptusfeuers und schmeckte das Salz der Tränen, die sich in ihren Mundwinkeln gesammelt hatten. Sie fing an zu schluchzen, konnte gar nicht mehr damit aufhören. Endlich konnte sie um ihre Mutter weinen, und im Schutze der Dunkelheit und des Qualms, der sie umhüllte, überließ sie sich der Trauer und dem Schmerz.
    Gleichzeitig aber spürte sie fast so etwas wie Glück. Ihre Mutter hatte sie nicht einfach verlassen, wie sie all die Monate über geglaubt hatte; Emmas Schicksal war ihr nicht egal gewesen. Sie war ihr nicht einmal böse gewesen! Emma brauchte nur an den letzten Blick ihrer Mutter zu denken, an ihre letzten Worte und daran, dass sie nach ihrer Hand gegriffen hatte, um tröstliche Gewissheit darüber zu fühlen: Die Mutter hatte Ludwig die Schuld gegeben, nicht ihrer Tochter.
    »Du bist bei mir«, hatte sie gesagt.
    Ja, Mutter, dachte Emma, und ihr Herz wurde trotz des Kummers weit, ich bin bei dir. Ein Teil meiner Seele ist immer bei dir, wo du auch sein magst.
    Der andere Teil jedoch, das wusste Emma nun, würde hier unten bleiben – im Leben. Die Tränen flossen weiter, doch es waren keine Tränen der Verzweiflung mehr. Emma konnte den frühen Tod der Mutter betrauern, sich nach ihr sehnen und sie vermissen und bei alldem doch immer wissen, dass die Mutter sie bis zuletzt geliebt hatte.
    Ludwig hingegen hatte in Emmas Herz keinen Platz mehr. Nicht eine Träne floss für ihn. Er hatte alle betrogen, Auguste, die Mutter und sie, Emma. Ihnen allen hatte er Liebe vorgegaukelt; ein Spiel mit dem Feuer, das ihre Mutter das Leben gekostet hatte.
    Hatte Herr Röslin ihn zur Verantwortung gezogen? Oder hatte Ludwig nach Frau Röslins Sturz und Emmas Fehlgeburt – nach zwei Todesfällen, an denen er zumindest moralisch die Schuld trug – weitergelebt wie zuvor? Hatte er die beiden Geliebten, Mutter und Tochter, aus seinem Dasein gestrichen wie eine überflüssige Fußnote? Ja, sogar das traute sie ihm zu.
    Der Qualm wurde schwächer, die Blätter waren verbrannt, und mit dem

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