Der Duft von Hibiskus
fünf Minuten Zeit zum Aufwachen gönnt«, murmelte sie. Sie drehte sich auf den piksenden Wolldecken um, die als Matratzenersatz dienten, und schloss wieder die Augen. Gerade wollte sie zurück in den Schlaf gleiten, als etwas sie endgültig weckte.
Etwas fehlte.
Als sie wusste, was es war, setzte sie sich ruckartig auf.
Sie hatte nicht schlecht geträumt! Zum ersten Mal seit Ewigkeiten war sie nicht von Alpträumen heimgesucht worden! Stattdessen hatte sie die ganze Nacht selig durchgeschlafen.
Emma zog die Knie an, umschlang sie mit den Armen und lachte leise. Sie war noch müde, vom Vortag schmerzten ihre Muskeln, und ein weiterer anstrengender Tag erwartete sie. Doch sie fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr.
Nachdem jeder die Aufgabe, die ihm am Abend vorher von Carl Scheerer zugeteilt worden war, erledigt hatte, brachen sie auf, um weiter in den Busch vorzudringen. Emma musste als Einzige nicht gehen, Scheerer hatte ihr wie selbstverständlich in den Sattel geholfen.
Die kleine Gruppe folgte dem creek , der sich nordwestlich ins Inland schlängelte. Allmählich veränderte sich die Landschaft. Zu den Eukalypten gesellten sich kleinere Gewächse, die Emma an Apfelbäume erinnerten. Oskar konnte ihr leider nicht sagen, wie sie hießen, doch er erkannte manch andere Pflanze: niedrige, in Gruppen wachsende Orangenbäumchen; Brigalow-Akazien, deren Stämme mit schwarzer, rissiger Borke bedeckt waren und die weit in den Himmel ragten; einen merkwürdigen Baum, die Kasuarine, die kein richtiges Laub trug, sondern schachtelhalmblättrige Zweige.
Sehen Sie, Frau Karnshagen, dachte Emma triumphierend, Australien hat keineswegs bloß Gummibäume vorzuweisen!
Bald wurde das Grün in der fruchtbaren Region um den Fluss herum so dicht, dass es für die Forscher mit ihren Tieren zunehmend schwierig wurde hindurchzukommen. Die Ochsen blieben immer wieder mit ihren Packsätteln an den Zweigen hängen, was die Gurte einer harten Zerreißprobe aussetzte. Emmas sonst so brave Stute spielte aufgeregt mit den Ohren und scheute vor jedem zurückschnellenden Ast. Kurz entschlossen saß Emma ab und führte das Pferd am Zügel. Oskar und Pagel fluchten, und sogar Krüger verlor seine übliche Ruhe. Gereizt trieben die Männer die Ochsen durch das Dickicht und zogen dabei die nervösen Pferde unsanft hinter sich her.
Nur Carl Scheerer blieb gelassen. Er ging mit seinem Rappen Orlando voraus, bahnte den anderen einen Weg, so gut es ging, und beruhigte dabei mit leisen Worten nicht nur sein Pferd, sondern immer wieder auch die Ochsen. Emma sah, wie Scheerer das Pferd losließ, um einen Ochsen zu befreien, dessen Gurt sich mit einem spitzen Ast verhakt hatte. Orlando wartete geduldig auf seinen Herrn, und sogar der Ochse hielt still, als wüsste er, dass der Leiter ihm helfen wollte.
Oskar drehte sich zu Emma um. »Ein Tausendsassa, unser Scheerer, was?«, sagte er spöttisch. »Alles gehorcht ihm, alles ordnet sich ihm unter. Fehlt nur noch, dass er zum König der Wilden wird, wenn wir welchen begegnen.« Er lachte abfällig.
Emma blieb ihm die Antwort schuldig. Insgeheim gestand sie sich ein, dass sie Scheerers Souveränität bewunderte. Und das, obwohl sie sich auf dem Schiff geschworen hatte, die Erinnerung an ihre verlorene Liebe niemals durch Gefühle für einen anderen Mann zu beschmutzen.
Tue ich das denn?, fragte sie sich nachdenklich. In einem anderen Leben würde Carl Scheerer mir vielleicht gefallen. Aber in diesem …
Nein, aus ihrer Bewunderung würde niemals etwas Stärkeres werden, schon weil ihre Anwesenheit ihn nach wie vor störte. Sie konnte beruhigt sein: Scheerer würde sie immer als Oskars unwillkommene Assistentin sehen.
Ludwig, wo er auch sein mochte, brauchte sich also keine Sorgen zu machen.
Wenn er überhaupt noch an sie dachte.
Wenn er überhaupt noch lebte.
Es war eine glückliche Zeit gewesen. Emma war bei ihrem Vater in die Lehre gegangen, und er hatte ihr alles beigebracht, was, wie er sich selbst beruhigt hatte, ihrem zukünftigen Gatten einmal die Langeweile daheim vertreiben würde. Emma begleitete ihren Vater auf seinen Streifzügen durch die Natur, beobachtete ihn, wie er Moose, Gräser und Blüten mit der Lupe betrachtete, und hielt Beutel aus weißem Mull bereit, in denen sie seine Funde unversehrt nach Hause bringen konnten. Sie lernte die Namen der Heilpflanzen und vieler weiterer Gewächse, die in ihrer schwäbischen Heimat wuchsen, und begann, sie nach dem Linnéschen
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