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Der Duft von Hibiskus

Der Duft von Hibiskus

Titel: Der Duft von Hibiskus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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gerecht zu werden, seine Eigenheiten perfekt abzubilden, sogar seine Seele einzufangen – wenn es denn eine hatte. Doch während sie den Beutler zeichnete, zweifelte sie daran keine Sekunde lang.
    Die Nacht brach herein, und die Flammen warfen flackernde Schatten auf das Bleistiftwesen, das Emma erschaffen hatte. Der Stift flog über das Papier, hier noch eine Schraffur, dort eine kleine Verbesserung. Emma hörte weder das leise Wiehern der Pferde noch die vereinzelten Schreie der Nachtvögel oder das unmelodische Quaken der Frösche. Eine wunderbare Stunde lang lebte sie in einer Welt, in der nichts ihr etwas anhaben konnte, in der sie den Tod bezwang und Leben schuf, statt es zu vernichten.
    Eine wunderbare Stunde lang war sie glücklich.
    Sie merkte erst, dass Carl Scheerer hinter sie getreten war, als er sie vorsichtig ansprach. »Nicht erschrecken, ich bin’s nur.«
    Sie blinzelte, als erwachte sie aus einem Traum, dann ließ sie den Bleistift sinken und schaute über die Schulter zu ihm hoch. In der Dunkelheit wirkten seine Locken noch wilder, seine Haut im Schein des Feuers fast golden. Er deutete auf ihre Zeichnung. »Darf ich?«
    Sie nickte, und er setzte sich neben sie. Eingehend betrachtete er die beiden Beutler, den toten und den papiernen.
    »Auch wenn Sie nicht gut reiten können«, sagte er ruhig, »und bei der ersten Gelegenheit in Ohnmacht fallen: Sie sind eine begnadete Zeichnerin, Fräulein Röslin. Wissen Sie das eigentlich?«
    Sie starrte ihn an, konnte kaum glauben, dass dieses ungeheure Lob wirklich aus seinem Mund gekommen war. Doch da erhob er sich bereits wieder und ging davon; seine breiten Schultern hoben sich scharf gegen den Nachthimmel ab.
    Verwirrt schaute sie ihm nach. Seine Worte hatten ein unerwartetes Gefühl in ihr ausgelöst, fremd und gleichzeitig vertraut, erschreckend und köstlich. Wenn sie ehrlich war, hing das Lustvolle dieses Gefühls nicht nur mit dem Lob zusammen. Sondern ebenso mit Scheerers Nähe, seiner atemberaubenden Attraktivität, die der Schein des Feuers noch verstärkt hatte.
    Aber durfte sie so empfinden?
    Hätte sie es sich in Stuttgart erlaubt, mit Ludwig an ihrer Seite?
    Er war nie an meiner Seite, flüsterte es bitter in ihrem Kopf. Außer wenn wir allein waren. Oh ja, da hat er mir gehört.
    Die Ungewissheit darüber, was zwischen Ludwig und ihr in jener letzten Klavierstunde geschehen war, vermischte sich mit der Trauer über ihre verlorene Liebe und mit der Sehnsucht nach ihren Eltern. Und doch …
    Merkwürdig, sie spürte weiterhin mit völliger Klarheit den Herzschlag der warmen australischen Nacht. Ihre Sinne schienen vollkommen konzentriert auf die Gegenwart: Sie roch den scharfen Duft der Eukalypten, spürte den leichten, samtweichen Wind ihre Haut streicheln, und plötzlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als wieder unbeschwert sein zu dürfen. Sich auf die Schönheit dieser australischen Sommernacht einzulassen, als wäre nie etwas Schlimmes geschehen; als wäre sie einfach eine junge Frau, die die Abenteuerlust hierher verschlagen hatte und die sich in diesem Moment über die Anerkennung des Expeditionsleiters freute.
    Aber so war das Leben nicht.
    Emmas Vater hatte sie minutenlang fassungslos angestarrt, als sie ihm ihre große Bitte vorgetragen hatte. Er hatte so schwer geatmet, dass Emma bereits um sein körperliches Wohlbefinden gefürchtet hatte, und beinahe hätte sie gesagt, dass ihr Ansinnen nur ein dummer Scherz gewesen sei.
    Doch da sagte Herr Röslin: »Hol mir den Rousseau, Emma.«
    Stirnrunzelnd kam sie seiner Aufforderung nach, verließ des Vaters Arbeitszimmer und ging in den Salon, wo die Bücher standen. Sie musste eine Weile suchen, doch dann fand sie es: Jean-Jacques Rousseaus »Émile oder über die Erziehung«. Mit dem schweren Buch in der Hand eilte sie zurück zum Vater.
    Er blätterte darin, murmelte etwas Undeutliches und rief dann aus: »Ha, hier ist es! Hör mir zu, Emma, hör mir gut zu!«
    Verwirrt setzte sie sich auf den zierlichen Sessel am Fenster, und ihr Vater begann, mit unheilvoller Stimme vorzulesen.
    »So muss sich die ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer vollziehen. Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein, sich von ihnen lieben und achten lassen, sie großziehen, solange sie jung sind, als Männer für sie sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süßes Dasein bereiten: Das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an

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