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Der Duft von Hibiskus

Der Duft von Hibiskus

Titel: Der Duft von Hibiskus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Leuze
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das Ergebnis blieb sich gleich, dachte Emma, und ihre Wangen begannen vor Aufregung zu glühen: Sie war im Begriff, Neuland zu entdecken.
    Sie ganz allein.
    Endlich.
    Das Grün war überall. Am Boden überwucherte es in langen, saftstrotzenden Ranken totes Holz und hauchte ihm neues Leben ein. Das Grün bildete Wälder aus riesigen Farnen, und es überzog Steine mit feuchten Pelzen. Es bekleidete die Stämme der Bäume, Giganten, die so hoch waren, dass Emma den Kopf weit in den Nacken legen musste, um die Wipfel erkennen zu können. Es bot sich Emmas Augen in allen nur denkbaren Schattierungen dar – grasgrün, olivgrün, goldgrün, meergrün, blaugrün und Dutzende Töne mehr –, und es färbte die Luft mit einem Dämmerlicht, als würde sogar sie aus winzigen Pflanzenteilen bestehen.
    Mit klopfendem Herzen bog Emma die harten Wedel einer Pflanze zur Seite – konnte das eine Palme sein? – und drang in die üppige Welt aus Farbe und überraschend kühler Feuchtigkeit ein. Kaum wusste sie, wohin sie ihren Fuß setzen sollte, da alles so dicht bewachsen war, dass sie Schlangen und anderes Getier erst entdecken würde, wenn es zu spät wäre. Nun, sie hatte ja hohe, feste Stiefel an, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch als eine fette Spinne sich direkt vor ihren Augen abseilte, stieß sie einen heiseren Schrei aus, und ihr wurde klar, dass Stiefel allein ihr nicht viel nützen würden.
    Ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, sich ohne die Männer in den Regenwald zu wagen?
    Vor Spinnen könnten die Forscher sie auch nicht beschützen, sagte sie sich streng und drang weiter in den Wald vor.
    Sie kletterte über einen umgestürzten Baumriesen und riss sich dabei die Haut an den Unterarmen auf. Das musste sie sich fürs nächste Mal merken: immer lange Ärmel tragen! Beherzt schlug sie sich weiter durchs Dickicht. Ob es nicht auch Stellen in diesem Wald gab, die weniger dicht bewachsen waren? Über ihr pfiffen Vögel seltsame, kurze Melodien. Sie schienen keine Angst vor Menschen zu haben, denn plötzlich flatterte es neben ihr in der Luft, ein kleiner Papagei landete auf einem Ast und beäugte sie mit schiefgelegtem Köpfchen. Beinahe hätte Emma gelacht, denn der Vogel war – wie sollte es hier auch anders sein – natürlich grün.
    »Du bist wohl genauso neugierig wie ich?«, fragte sie den Papagei, der, von ihrer Stimme aufgeschreckt, kreischend das Weite suchte. Sie sah ihm nach, wie er im Blätterdach über ihr verschwand. Ob diese Papageienart schon einen Namen hatte? Wieder ergriff sie die Aufregung, die sie bereits auf dem Weg hierher verspürt hatte.
    Sie ging langsam weiter, trat vorsichtig auf knackende Zweige und federnde Moosbetten. Wenn sie einatmete, schien es ihr, als füllte nicht Luft ihre Lungen, sondern konzentrierter Duft: An einer Stelle roch es süß und stark wie Parfum, ein paar Schritte weiter fast modrig, dann wieder nach nasser Erde oder exotischen Blüten. Die Düfte hüllten sie ebenso ein wie die grüne Luft, umschmeichelten, umgarnten und bedrängten sie. Fühlte sie sich deshalb so seltsam? So anders als sonst? Als habe sie die alte Emma am Rande des Regenwaldes zurückgelassen, und die Frau, die jetzt all dies roch, auf der Haut spürte und mit den Augen trank, war eine ganz andere …
    So kam es ihr gar nicht in den Sinn zu schreien, als wie aus dem Nichts eine Eingeborene auftauchte. Emma blieb einfach stehen, sah die junge Frau an und registrierte, dass sie unbekleidet war. Lediglich ein Gürtel aus Schnur, an dem ein Stück Stoff hing, war um ihre Hüften geknotet. Der Körper der jungen Schwarzen war schlank, ihre Haltung aufrecht, und als Emma ihr in die Augen schaute, erwiderte die Frau ihren Blick vollkommen gelassen.
    Sie scheint sich überhaupt nicht zu schämen, obwohl sie splitterfasernackt ist, fuhr es Emma durch den Kopf.
    Sie wusste, dass sie sich entrüstet von der nackten Wilden hätte abwenden sollen. Doch sie tat nichts dergleichen. Vielleicht weil der Anblick dieser stolzen Frau sie weit weniger schockierte als die voll bekleideten, aber so schrecklich heruntergekommenen Eingeborenenfrauen in Ipswich. Oder war es der Zauber des grünen Dämmerlichtes, der Duftschwaden und der Papageien, der es Emma einfach nicht gestattete, mit zivilisierter Empörung auf den Anblick der Schwarzen zu reagieren?
    Benommen, fast wie hypnotisiert stand Emma da, und ihr wurde bewusst, dass sie sich auf einem Terrain befand, das seit Urzeiten den Ahnen dieser Frau gehört

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