Der Duft von Tee
sie.
Doch ich war in der Menge untergetaucht. Und dann verschwand Mama wieder, die Verrückte Martha im Schlepptau. Die Menge jubelte, als eine weitere Dose über den Zaun flog und neben ihren Füßen landete.
»Die Verrückte Martha und ihre Freundin, die Blaffende Bertha«, spaßte ein Mädchen mit dunklem Eyeliner. Ich bekam mit, wie Jennifer mir mit weit aufgerissenen Augen einen halb mitleidigen, halb amüsierten Blick zuwarf. War es schon vorher mit meiner gebrauchten Schuluniform und der Akne am Kinn schwierig gewesen, Freunde zu finden, so war es jetzt schier unmöglich. Ich würde den Rest des Jahres im sicheren Schoß der Bücherei verbringen. Umgeben von Stapeln französischer Kochbücher und veralteter Reiseführer zu fernen Orten: Afrika, Grönland, Australien, China.
Der Bauarbeiter hört auf zu starren und kratzt sich in der Achselhöhle. Vielleicht sollte ich wieder nach Hause gehen und mich ins Bett legen. Die Luft ist feucht und zum Schneiden, und ich fühle mich erschöpft. Mir gegenüber liegt der Hof eines Wohnkomplexes, drei in U-Form angeordnete Wohnhäuser. Die Fassaden sind mit gesprungenen grünen Kacheln gefliest, deren Farbe mit dem Alter langsam verblasst. Vor den meisten Fenstern sind rostige Metallgitter angebracht, an denen feuchte Kleidung hängt. Ich betrete den Hof und sehe mir die kleinen Geschäfte an, die das Erdgeschoss einnehmen. Die meisten wurden anscheinend schon vor einiger Zeit aufgegeben. Ein Laden sieht wie ein Reisebüro aus, die Plakate sind verblichen und blättern vom Schaufenster ab. Daneben ist ein Schönheitssalon, der sich offenbar auf Haarentfernung spezialisiert hat. Davor steht eine Tafel mit der sorgfältig in zitronengrüner Kreide angefertigten Zeichnung einer Sandale, auf der hawaiianische Flipflops angeboten werden. Das Friseurgeschäft nebenan ist geschlossen, die Fensterscheiben sind verschmutzt. Die gestreifte Stange davor dreht sich noch immer wie trunken.
Eine Notiz fällt mir sofort ins Auge, weil sie auf Englisch ist. Sie ist mit der Hand auf ein sauberes, weißes Blatt Papier geschrieben, das in einem Fenster hängt und auf dem oben etwas auf Portugiesisch steht, gefolgt von einer Reihe kleiner schwarzer chinesischer Schriftzeichen. Zu verkaufen. Geschäft mit Ofen. Guter Preis. Oder zu vermieten. Tel.: 6688 3177.
Ich spähe durch die trüben Scheiben in einen Raum, in dem vor einiger Zeit vielleicht einmal ein Café war. Rohrsessel sind an einer Wand gestapelt. Der Boden ist mit weißen Fliesen mit kleinen, schwarzen Rauten in der Mitte jeder Vierergruppe bedeckt. Sie sind von einem klebrig aussehenden Schmutz überzogen. Im hinteren Teil des Raums befindet sich eine Ladentheke, über der eine portugiesische Flagge befestigt ist. Die oberste rechte Ecke hat sich gelöst, sodass sie auf dieser Seite herunterhängt. Ich trete von dem Fenster weg und betrachte wieder die Schrift. Geschäft mit Ofen – das bedeutet wohl, dass eine Küche dazugehört.
Eine scharfe Stimme durchschneidet meine wirren Gedanken. Jemand schreit etwas auf Kantonesisch. Ich blicke auf. Eine alte Frau in einem Pyjama mit Blümchenmuster lehnt sich aus ihrem Fenster. Sie stößt ihren Finger in die Luft und ruft etwas. Das ist mir unangenehm, und ich komme mir unbeholfen und dumm vor, weil ich ihre Sprache nicht spreche.
»Sorry!«, rufe ich gepresst und hebe die Hand zu einem entschuldigenden Winken.
Als ich ein paar Schritte rückwärts mache, stolpere ich und lande mit einem kräftigen, dumpfen Aufprall auf dem Hintern.
»Scheiße.« Ich vermeide es aufzusehen – für den Fall, dass sich die Frau über meinen Sturz lustig macht. Ich stehe auf und wische mir den Schmutz von der Hose. Mein Gesicht brennt vor Scham, und ich trete den Rückzug an. Gerade als ich den Hof verlassen will, drehe ich mich noch ein letztes Mal zu dem Blatt Papier um. Es starrt zurück, blass wie der Flügel einer Taube vor dem dunklen, leeren Fenster. Ich senke den Kopf und trete den Heimweg an. Nach ein paar Schritten höre ich eine zweite Stimme. Ein Lachen. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Erst jetzt sehe ich eine andere Frau, die gegenüber der Frau in dem Pyjama gegen ihr Balkongeländer lehnt. Sie ruft etwas, während sie Hemden und Hosen aufhängt. Sie schüttelt die nassen Kleidungsstücke aus, grunzt und nickt ihrer Freundin über die Straße hinweg zu. In dem Moment wird mir klar, dass sie einfach nur miteinander plaudern und dass das absolut nichts mit mir zu tun
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