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Der Duft von Tee

Der Duft von Tee

Titel: Der Duft von Tee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Tunnicliffe
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könnte dieses Bedürfnis, dieses Gefühl noch irgendwo lauern, um mich aus heiterem Himmel zu überfallen. Aber da ist nichts. Warme Stille. Eine Brise huscht um die Ecke und weht mir das Haar aus der Stirn. Ein Taxi rauscht vorbei; eine alte Dame mit einem ergrauten Bubikopf starrt mich an. Mir wird klar, dass ich mich nur ungefähr fünf Häuserblocks von der Schönsten Blumenstadt entfernt habe. Ich kann sie in der Ferne sehen. Irisblau ragt sie in den Kornblumenhimmel. Vor mir liegen der Baugrund für eine neue internationale Schule und dahinter ein Wohnhaus in einem verblassten Graugrün. Es wird langsam wärmer; ich höre einen emsigen Presslufthammer. Noch wuseln keine Arbeiter auf der Baustelle herum. Ein paar Männer sind bereits da, doch sie reiben sich noch die Augen, kratzen sich im Nacken und sehen sich um, als würden sie nach dem Vorarbeiter Ausschau halten.
    Einer der Männer entdeckt mich von seinem Platz auf dem Baugerüst aus, auf dem er sitzt und die Beine baumeln lässt. Er trägt kein Hemd und raucht eine Zigarette. Inzwischen weiß ich, dass es hier nicht unhöflich ist, andere Leute anzustarren, aber es macht mich nach wie vor nervös. »Du hältst dich wohl für was Besonderes?«, scheint der dreiste Blick aus seinen dunklen Augen zu sagen. Unter ihm grinst mich ein räudiger Hund an. An seiner Schnauze klebt Reissuppe, er hat die Lippen zurückgezogen und die Zähne gefletscht. Die Zunge hängt an einer Seite aus dem Maul.
    Mama hätte wahrscheinlich mit dem Mann geredet. Es hätte sie nicht gekümmert, dass er halb nackt ist oder dass er kein Wort Englisch versteht oder dass sein Hund aussieht, als hätte er hundert verschiedene Hautkrankheiten. Einmal hat sie als Spendensammlerin für Greenpeace gearbeitet und überallhin ihre Anmeldeformulare und ihr Clipboard mitgenommen. Sie konnte stundenlang über Sattelrobben oder Atombombentests reden, konnte eine japanische Waljagd so blutrünstig beschreiben, als hätte sie selbst auf Deck des Schiffs gestanden.
    Ihr Enthusiasmus war ansteckend – berauschend und unter den falschen Umständen etwas furchterregend. Männer unterschrieben häufiger als Frauen. Das lag an Mama und nicht an Greenpeace. Besonders bei wärmerem Wetter, wenn sie lange Röcke und das Haar offen trug. Sie war so schön wie ein frisch gefallenes Herbstblatt, das gerade vom Baum heruntergeflattert kommt und bei dem man an eine kalte Brise denkt und wie man mit jemandem Hand in Hand spazieren geht, den man gern hat.
    Ich sehe wieder zu dem Mann auf dem Gerüst, der gerade ein Stück Tabak von seinen Lippen klaubt und auf den Boden spuckt. Sein leeres Starren erinnert mich an die Verrückte Martha. Die Verrückte Martha, die um meine Highschool herumlief, Getränkedosen aufsammelte und etwas über Unseren Herrn Jesus Christus murmelte. Ich glaube nicht, dass jemand ihren richtigen Namen kannte. Die Mädchen haben sie geärgert, ihr Dosen über den Zaun zugeworfen, damit sie sich danach bücken musste, haben über ihr wolliges Haar und ihre ruhelosen, glasigen Augen gelacht. Sie hat mir Angst gemacht, und ich habe mich von ihr ferngehalten bis zu dem Tag, an dem Jennifer Beasley angerannt kam und aussah, als gäbe es wichtige Neuigkeiten.
    »Deine Mum ist unten am Zaun bei der Verrückten Martha«, verkündete sie atemlos und mit aller Sensationslust ihrer vierzehn Jahre. Noch bevor ich mich auf den Weg machte, wusste ich, dass es eine Szene geben würde. Mehrere Mädchen in Kniestrümpfen standen in Gruppen zusammen am Zaun und kicherten. Ich konnte Mama rufen hören. Dass man sich schämen sollte und was Gandhi tun würde. Ich bin mir nicht sicher, dass meine Klassenkameradinnen überhaupt wussten, wer Gandhi war, aber sie waren sichtlich amüsiert. Ich spähte einem Mädchen mit einer blonden Dauerwelle über die Schulter. Mama hielt die Verrückte Martha in einem ungelenken Schwitzkasten. Sie hatte das Kinn vorgestreckt, als sie sprach. Die arme Verrückte Martha schielte verwundert unter Mamas Achselhöhle hervor.
    »Wenn wir alle nach dem Prinzip Auge um Auge handeln würden …«, erklärte Mama.
    Martha sah ein wenig verängstigt aus, als wollte Mama ihr tatsächlich ein Auge ausreißen.
    »Dann wäre die ganze Welt irgendwann blind!«, schloss Mama theatralisch.
    Die Menge brach in mädchenhaftes Gelächter und Geschnatter aus. Jemand applaudierte sogar.
    Offensichtlich hatte Mama mein rotes Haar über dem grünen Pullover entdeckt. »Grace? Gracie, Liebes?«, rief

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