Der dunkle Fluss
roch nach saurer Milch und chinesischem Imbissessen. Ich klopfte an die Tür, aber niemand kam. Nach einer Weile tat ich es noch einmal.
Die Sonne kam endlich durch die Wolken, und die Glasscherben auf dem Asphalt blitzten auf. Ich war wieder auf halbem Weg zu meinem Wagen, als ich die Frau bemerkte, die fünfzig Meter weiter über den Parkplatz ging. Ich musterte sie: Mitte zwanzig, pinkfarbene Shorts und ein T-Shirt, das zu klein war, um ihre Brüste oder den Rettungsring aus Fett um ihren Bauch zu bändigen. Ich dachte an Emmanuels Beschreibung. Weiß. Bisschen fett. Trashy. Das kam ungefähr hin. Sie hatte eine Papiertüte in der einen Hand und eine halb aufgerauchte Zigarette in der anderen. Gebleichtes Haar hing strähnig unter einer Baseballmütze hervor.
Ich hörte ihre Flip-Flops.
Sah die Narbe in ihrem Gesicht.
Sie blieb stehen, als wir noch drei Schritte voneinander entfernt waren. Ihr Mund öffnete sich zu einem kleinen Kreis, und sie riss die Augen auf, aber diesen Ausdruck behielt sie nur einen Moment lang. Dann verschloss sich ihr Gesicht wieder, und sie änderte ihre Richtung gerade so weit, dass sie nicht mit mir zusammenstieß. Ich machte es kurz und sprach sie mit ihrem Namen an. Sie kniff die Augen zusammen und wippte auf den Fußballen. Aus der Nähe gesehen war sie hübscher, als ich erwartet hatte, trotz der Narbe. Klare blaue Augen über einer leicht aufwärts gewandten Nase. Sie hatte volle Lippen und klare Haut. Aber die Narbe hatte sie entstellt — straff und rosa und glänzend wie Vinyl. Sie war fünf Zentimeter lang und hatte einen schartigen Wulst in der Mitte, der nach Notfallchirurgie aussah.
»Kenn ich Sie?«, fragte sie.
Zwei Schlüssel hingen an einem Ring an ihrer Taille; der Plastikanhänger klemmte unter dem Gummizug ihrer Shorts. Aus ihrer Tüte stieg der Geruch von Frühstück; vermutlich war sie in dem Grill um die Ecke gewesen und hatte sich dort etwas geholt.
»Sie sind doch Candace, stimmt's?«
Ihr anfängliche Angst war fast verflogen. Wir standen früh am Morgen an einer verkehrsreichen Straße, und nur einen Block weiter waren fünftausend College-Kids unterwegs. »Candy«, korrigierte sie mich.
»Ich muss mit Ihnen über Danny Faith reden.«
Ich hatte damit gerechnet, dass sie ein verkniffenes Gesicht machen würde, aber stattdessen verloren ihre Züge jeden Halt. Ihr Mund öffnete sich, und ich sah einen einzelnen, verfaulten Zahn auf der rechten Seite. Tränen weiteten ihre Augen, und die Frühstückstüte fiel zu Boden. Sie presste beide Hände vor das Gesicht und verbarg den hellrosa Riss in ihrer ansonsten makellosen Haut.
Sie zitterte — ein weinendes Wrack.
Es dauerte ungefähr eine Minute. Als sie die Hände sinken ließ, hatte der Druck ihrer Finger weiße Flecken hinterlassen. Ich hob die warme Tüte auf und gab sie ihr. Sie fischte eine Serviette heraus und putzte sich die Nase. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich hab erst gestern erfahren, dass er tot ist.«
»Macht es Ihnen etwas aus?«, fragte ich. »Er hat Ihnen diese Narbe verpasst. Und Sie haben ihn wegen Körperverletzung angezeigt.«
Sie ließ den Kopf hängen. »Das heißt nicht, dass ich ihn nicht geliebt habe.« Sie schniefte und fuhr sich mit einer trockenen Ecke der Serviette unter beiden Augen entlang. »Fehler kann man wiedergutmachen, das passiert doch dauernd. Man schaut nach vorn. Man kommt wieder zusammen.«
»Darf ich fragen, weshalb Sie sich gestritten haben?«
»Wer sind Sie gleich wieder?«
»Danny und ich waren Freunde.«
Mit einem feuchten Schnaufen hob sie den Finger. »Sie sind Adam Chase«, stellte sie fest. »Er hat viel von Ihnen geredet. Er sagte, Sie wären Freunde, und Sie könnten diesen Jungen niemals umgebracht haben. Das hat er jedem gesagt, der ihm zuhören wollte. Er hat manchmal sogar Prügeleien deswegen angefangen. Hat sich betrunken und wurde dann wütend. Hat erzählt, wie toll Sie wären und wie sehr er Sie vermisste. Dann ist er losgezogen und hat Leute gesucht, die schlecht über Sie redeten. Fünf-, sechsmal bestimmt, vielleicht öfter. Ich weiß nicht mehr, wie oft er blutig zurückkam. Oft jedenfalls. Mir hat das Angst gemacht.«
»Blut kann so eine Wirkung haben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Blut macht mir nichts aus. Ich habe vier Brüder. Nein, es war das, was nachher kam.«
»Was denn?«
»Wenn er sich beruhigt und das Blut abgewaschen hatte, saß er die halbe Nacht da und betrank sich ganz allein. Saß einfach im Dunkeln und
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