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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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empfindet jeden Schmerz stärker als die meisten von uns.«
    Er war sichtlich erschüttert, und ich spürte, wie tief seine Gefühle für sie waren. »Weißt du, warum sie es tut, George?« Ich dachte an Gray Wilson und daran, wie sie an seinem Grab getrauert hatte. Er schüttelte den Kopf. »Sie wird es mir sagen, wenn sie dazu bereit ist. Ich darf sie nicht drängen.«
    »Mein Vater sollte bei einer so wichtigen Sache nicht im Dunkeln gelassen werden«, sagte ich.
    »Er kann Miriam nicht helfen. Ich liebe ihn, aber er kann es nicht. Er ist ein harter Mann, und sie braucht eine sanfte Hand. Er würde ihr sagen, sie soll endlich erwachsen werden und stark sein, und das würde es nur noch schlimmer machen. Sie gibt viel auf das, was er denkt. Sie braucht seinen Beifall.«
    »Janice schafft das nicht allein.«
    Seine Schuhe klickten auf dem Asphalt. »Zunächst einmal muss Janice es nicht allein schaffen. Ich kümmere mich ja auch darum. Miriam hat eine Psychologin in Winston-Salem, und drei- oder viermal im Jahr geht sie zur stationären Behandlung. Wir kümmern uns um sie und tun alles, was getan werden muss.«
    »Sieh nur zu, dass du verdammt gut auf sie aufpasst.« Er wollte etwas sagen, aber ich ließ ihn nicht. »Ich mein's ernst, George. Das ist kein Spiel.«
    Empört richtete er sich auf. »Du hast Nerven, mir so etwas zu sagen, ist dir das eigentlich klar? Wo warst du denn die ganze Zeit? Weit weg in der Großstadt, ein feines Leben vom Geld deines Vaters. Ich war hier für sie da. Ich habe immer wieder die Scherben aufgelesen. Ich habe sie zusammengehalten. Ich. Nicht du.«
    »George —«
    »Halt's Maul, Adam, oder ich werd's dir stopfen. Ich stehe nicht hier und lasse dich über mich urteilen.«
    Ich ließ mir ein paar Sekunden Zeit. Er hatte recht. »Es tut mir leid, George. Ich war zu lange weg und bin nicht mehr auf dem Laufenden. Ich mache mir nur Sorgen. Sie gehört zu meiner Familie. Ich liebe sie, und es ist furchtbar, sie leiden zu sehen. Ich habe kein Recht, zu beurteilen, wie du und Janice mit dem Problem umgeht. Ich bin sicher, sie bekommt die beste Hilfe, die es gibt.«
    »Es wird ihr wieder besser gehen, Adam. Daran muss ich einfach glauben.«
    »Du hast sicher recht, und ich bitte noch mal um Entschuldigung. Aber was kann ich für dich tun, George? Warum bist du hier?«
    Er holte tief Luft. »Sag deinem Vater nichts, Adam. Darum bin ich hier. Wir haben nicht geschlafen. Sie hat die ganze Nacht geweint.«
    »Miriam bittet mich darum ?« Er schüttelte seinen dicken Kopf. »Sie bittet dich nicht, Adam. Sie fleht dich an.«
    Ich versuchte, Jamie vom Auto aus anzurufen, erreichte jedoch wieder nur die Mailbox. Ich hinterließ eine Nachricht, und ich bezweifelte, dass mein Ton freundlich war. Er machte sich ungewöhnlich rar; vermutlich war er entweder betrunken oder verkatert, oder er ging mir aus dem Weg. Miriam hatte recht, begriff ich. Die Familie zerriss sich selbst. Aber jetzt konnte ich mir nicht den Kopf über Miriam zerbrechen, nicht einmal über Grace. Zuerst musste ich mich um Dolf kümmern. Er war nach wie vor im Gefängnis, und noch immer redete er mit niemandem. Hier gingen Dinge vor, über die ich nichts wusste, und ich musste ihnen auf den Grund kommen — vorzugsweise, bevor Grantham es tat. Heute, sagte ich mir. Candace Kane war ein guter Anfang. Um halb neun hatte ich ihr Apartment gefunden.
    Es war ein alter Wohnblock, ein zweistöckiger Backsteinbau mit einem Laubengang, der sich quer über die Fassade zog. Er stand auf einem kargen Grundstück, einen Block weit vom College entfernt: dreißig Wohnungen, überwiegend Arbeiter. Zerbrochene Bierflaschen aus vierzig Jahren waren von zehntausend Reifen zu Glasstaub zermahlen worden. Die ganze Anlage sah aus wie mit Flitter überstäubt, wenn die Sonnenstrahlen im richtigen Winkel einfielen.
    Candace' Apartment lag im ersten Stock an der hinteren Ecke. Ich parkte und ging zu Fuß weiter. Grober Beton knirschte unter meinen Schuhen, als ich die Treppe hinaufstieg. Ich konnte den hohen Turm der College-Kapelle, die prächtigen Eichen auf dem Campus sehen. Die Nummern an den Türen waren abgefallen, aber ich erkannte die Spur einer »16« in dem verfärbten Anstrich. Ausgetrockneter Klebstreifen bedeckte ein selbst gebohrtes Guckloch. Eine Ecke hatte sich in der Hitze aufgekräuselt, und ich sah, dass jemand das Loch mit einem Papiertaschentuch verstopft hatte, bevor es verklebt worden war. Ein Plastikmüllsack lehnte an der Wand; er

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