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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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parkte in der Zufahrt zu Dolfs Haus. Ich hielt dahinter an und stieg aus. Mein Vater trug alte, sonnengebleichte Kleider. Miriam saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Sie sah erschöpft aus.
    Ich beugte mich ins Fenster. »Alles okay?«, fragte ich.
    »Sie will nicht mit uns sprechen«, sagte er.
    Ich schaute in die Richtung, in die er mit dem Kopf deutete, und erblickte Grace im Garten neben dem Haus. Sie war barfuß und trug verblichene Jeans und ein weißes Tanktop. Im weichen Licht sah sie sehr hart aus, sehr muskulös. Sie hatte ihre Zielscheibe dreißig Meter entfernt aufgestellt, und der Compound-Bogen wirkte riesig in ihren Händen. Ich beobachtete, wie sie ihn spannte und losließ. Schnell wie ein Gedanke bohrte der Pfeil sich ins Schwarze. Sechs Pfeile steckten da, ein dickes Büschel aus Fiberglas, Stahl und leuchtenden Federn. Sie legte den nächsten Pfeil an. Die Stahlspitze blinkte. Als er flog, glaubte ich ihn zu hören.
    »Sie ist gut«, sagte ich.
    »Makellos«, verbesserte mein Vater. »Sie schießt jetzt schon seit einer Stunde. Hat noch kein einziges Mal danebengetroffen.«
    »Ihr wart die ganze Zeit hier?«
    »Wir haben zweimal versucht, mit ihr zu sprechen. Sie will nicht.«
    »Gibt's ein Problem?«
    Sein Kiefer mahlte. »Dolf stand heute das erste Mal vor Gericht.«
    »Und sie war da?«
    »Sie haben ihn in Ketten hereingebracht. Um die Hüften, an den Füßen, an den Handgelenken. Er konnte kaum gehen. Überall Reporter. Dieses Arschloch von einem Sheriff. Der Staatsanwalt. Ein halbes Dutzend Justizwachtmeister, als wäre er ein Sicherheitsrisiko. Verdammt. Es war unerträglich. Er hat keinen von uns angesehen. Nicht mich, nicht Grace — nicht mal, als sie versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Sie ist auf und ab gesprungen...«
    Er brach ab. Miriam rutschte unbehaglich hin und her.
    »Sie haben ihm einen Anwalt angeboten, und er hat wieder abgelehnt. Grace war in Tränen aufgelöst, als sie ging. Wir sind hergekommen, um nach ihr zu sehen.« Wieder deutete er mit dem Kopf. »Und haben sie so gefunden.«
    Mein Blick ging zu Grace hinüber. Anlegen und loslassen. Das Klatschen von hartem Stahl auf ausgestopftem Segeltuch. Gespaltene Luft, die ich spüren konnte. »Grantham wollte zu dir«, sagte ich. »Anscheinend glaubt er, ihr habt noch was zu besprechen.«
    Ich beobachtete ihn aufmerksam. Er sah weiter Grace zu, und sein Gesicht veränderte sich nicht. »Ich habe Grantham nichts zu sagen. Er hat nach der Verhandlung versucht, mit mir zu sprechen, aber ich habe ihn weggeschickt.«
    »Warum?«
    »Sieh doch, was er uns angetan hat.«
    »Weißt du, worüber er reden will?«
    Seine Lippen bewegten sich kaum. »Ist das wichtig?«
    »Und wie geht es jetzt mit Dolf weiter? Was kommt als Nächstes?«
    »Darüber habe ich mit Parks gesprochen. Der Staatsanwalt will eine Anklage. Dolfs Pech ist, dass die Anklagejury diese Woche tagt. Der Staatsanwalt wird keine Zeit verschwenden. Er wird seine Anklage kriegen. Der dämliche Trottel hat ja ein Geständnis abgelegt. Wenn die Jury die Anklage beschließt, wird man ihn dazu vernehmen. Und dann werden sie feststellen, ob die Todesstrafe zur Diskussion steht oder nicht.«
    Die vertrauten eisigen Schauer liefen mir über den Rücken. »Verhandlung nach Vorschrift vierundzwanzig«, sagte ich tonlos. »Feststellung der Angemessenheit einer Verurteilung zum Tode.«
    »Du weißt es noch.«
    Er konnte mir nicht in die Augen sehen. Ich kannte das Prozedere von innen. Es war einer der schlimmsten Tage meines Lebens gewesen, als ich stundenlang zugehört hatte, wie die Juristen darüber diskutierten, ob ich im Falle meiner Verurteilung die Giftspritze bekommen sollte oder nicht. Ich schüttelte die Erinnerung ab, und mein Blick fiel auf die Hand meines Vaters, die auf einem Stapel Papier neben ihm auf dem Sitz lag. »Was ist das?« Ich zeigte darauf.
    Er nahm die Blätter, räusperte sich und reichte sie mir. »Das ist eine Petition«, sagte er. »Gesponsert von der Handelskammer. Die haben sie mir heute übergeben. Vier Mann. Repräsentanten, haben sie sich genannt, als würde ich sie nicht allesamt schon seit mehr als dreißig Jahren kennen.«
    Ich blätterte die Seiten durch und sah Hunderte von Namen. Die meisten kannte ich. »Leute, die wollen, dass du verkaufst?«
    »Sechshundertsiebenundsiebzig Namen. Freunde und Nachbarn.«
    Ich gab ihm die Blätter zurück. »Was denkst du?«
    »Jeder hat das Recht auf seine Meinung. Nichts davon ändert etwas an

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