Der dunkle Fluss
wie die Schatten zusammenflossen und die Sonne hinter den Bäumen aufloderte. Mir fiel ein, dass er auch meine zweite Frage nicht beantwortet hatte.
Das Telefon klingelte, und ich meldete mich. »Er ist hier«, sagte ich und reichte es meinem Vater. »Miriam.«
Er nahm das Telefon und hörte zu. Sein Mund wurde zu einem harten Strich. »Danke«, sagte er. »Nein. Du kannst nichts für mich tun.« Er hörte wieder zu. »Herrgott, Miriam. Was denn zum Beispiel? Du kannst nichts für mich tun. Niemand kann das. Ja. Okay. Bis dann.«
Er gab mir das Telefon zurück und trank sein Bier aus. »Parks hat angerufen.«
Ich wartete.
»Dolf ist heute angeklagt worden.«
DREISSIG
D as Abendessen war eine Qual. Ich suchte nach Worten, die irgendwas bedeuteten, während Grace sich bemühte, so zu tun, als habe die Anklageerhebung ihr nicht den Boden unter den Füßen weggerissen. Wir aßen schweigend, denn über den nächsten Schritt, die Verhandlung nach Vorschrift vierundzwanzig, konnten wir nicht sprechen. Man würde Argumente wechseln und eine Entscheidung fällen. Es ging um Leben und Tod. Buchstäblich. Die Nacht senkte sich schwer auf uns, und wir konnten nicht genug trinken, nicht gut genug vergessen. Ich sagte ihr, sie solle die Hoffnung nicht aufgeben, und sie verschwand nach draußen und blieb fast eine Stunde weg. Als wir ins Bett gingen, hing Finsternis über dem Haus, und ich wusste, die Hoffnung hatte uns verlassen.
Ich lag im Gästezimmer und legte die Hand an die Wand. Grace war wach. Dolf war es wahrscheinlich auch, dachte ich. Mein Vater. Und Robin. Wie sollte auch jemand schlafen? Irgendwann tat ich es, doch es war ein unruhiger Schlaf. Um zwei Uhr wachte ich auf, und um vier noch einmal. An Träume konnte ich mich nicht erinnern, aber jedes Mal kreisten meine Gedanken wild durcheinander, und ich empfand wachsendes Grauen. Um fünf stand ich auf. In meinem Kopf hämmerte es, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich zog mich an und ging leise hinaus. Es war stockdunkel, aber ich kannte die Wege durch die Felder. Ich ging, bis die Sonne heraufkam. Ich suchte nach Antworten, und als ich keine fand, bemühte ich mich um einen Rest Hoffnung. Wenn es nicht bald einen Durchbruch gäbe, wäre ich gezwungen, einen anderen Weg einzuschlagen. Ich würde irgendeine Möglichkeit finden müssen, Dolf zum Widerruf seines Geständnisses zu überreden. Ich müsste mich mit den Anwälten treffen. Wir müssten eine Verteidigungsstrategie planen.
So etwas wollte ich nicht noch einmal durchmachen.
Als ich das letzte Feld überquerte, plante ich, wie ich den Tag in Angriff nehmen wollte. Es gab immer noch Candys Brüder, und jemand musste mit ihnen sprechen. Ich würde noch einmal versuchen, Dolf zu sehen. Vielleicht würden sie mich jetzt zu ihm lassen.
Vielleicht war er zur Besinnung gekommen. Die Namen der Buchmacher in Charlotte hatte ich nicht, aber ich hatte eine Adresse und eine Beschreibung. Ich konnte die zwei identifizieren, die Danny vier Monate zuvor zusammengeschlagen hatten. Vielleicht konnte Robin mit einem Kollegen in Charlotte sprechen. Ich musste mich mit Jamie unterhalten. Nach Grace sehen.
Die Beerdigung sollte am Mittag stattfinden.
Bei meiner Rückkehr war das Haus leer, und Grace hatte keine Nachricht hinterlassen. Das Telefon klingelte, als ich gerade gehen wollte. Margaret Yates, Sarahs Mutter.
»Ich habe bei Ihrem Vater angerufen«, erklärte sie. »Eine junge Frau hat mir gesagt, vielleicht finde ich Sie unter dieser Nummer. Sie haben hoffentlich nichts dagegen.«
Ich sah die alte Dame in ihrer Prachtvilla vor mir: die welke Haut, die kleinen Hände. Die hasserfüllten Worte, die sie mir mit so viel Überzeugung entgegengeschleudert hatte. »Ich habe nichts dagegen, nein«, sagte ich. »Was kann ich für Sie tun?«
Sie klang ruhig, aber ich spürte doch ein großes Zögern. »Haben Sie meine Tochter gefunden?«
»Ja.«
»Ich habe mich gefragt, ob ich Sie dazu bewegen könnte, mich heute zu besuchen. Ich weiß, es ist eine außergewöhnliche Bitte...«
»Darf ich fragen, warum?« Sie atmete schwer. Irgendetwas klapperte im Hintergrund. »Ich habe letzte Nacht nicht geschlafen. Ich habe überhaupt nicht mehr geschlafen, seit Sie hier waren.«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich habe versucht, nicht mehr an sie zu denken, aber dann habe ich Ihr Foto in der Zeitung gesehen und mich gefragt, ob Sie sie wohl gesehen haben. Und worüber Sie gesprochen haben.« Sie schwieg kurz. »Ich habe mich
Weitere Kostenlose Bücher