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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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den weiten Ring drehte.
    »Ich war Mitte dreißig, als ich sie bekam. Sie war ... nicht geplant.« Sie blickte auf. »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie eher Kind als Frau. Das war vor ihrem halben Leben.«
    Ich war verwirrt. »Wie alt ist Ihre Tochter?«
    »Einundvierzig.«
    »Ich hatte sie für viel älter gehalten.«
    Mrs. Yates runzelte die Stirn. »Das macht das Haar.« Sie deutete auf ihr eigenes, dünn und weiß und glänzend von Haarlack. »Eine unglückselige Eigenschaft in unserer Familie. Meins wurde weiß, als ich Anfang zwanzig war. Sarahs noch früher.«
    Sie stemmte sich aus ihrem Sessel und ging mit steifen Knöcheln durch das Zimmer zu einem Regal neben dem Kamin. Dort nahm sie ein Foto in einem polierten Silberrahmen herunter. Beim Anschauen verzog ein Lächeln die Falten in ihrem Gesicht. Ihr Finger zitterte, als er über das Glas strich, über etwas hinweg, das ich nicht sehen konnte. Sie kam zurück und reichte mir das Foto. »Das ist das letzte, das ich von ihr gemacht habe. Da war sie neunzehn.«
    Ich betrachtete das Bild: das animalische Lachen, die auffallend grünen Augen, das blonde Haar mit den weißen Strähnen. Sie ritt ohne Sattel auf einem Pferd, so weiß wie das Nordmeer. Die Finger in die Mähne geflochten. Eine Hand lag am Hals des Pferdes, und sie beugte sich vor, schien ihm etwas ins Ohr flüstern zu wollen.
    Einen Augenblick lang fühlte ich mich losgelöst, als kämen die Worte, die ich hörte, nicht aus meinem Mund. »Mrs. Yates, ich habe Sie vorhin gefragt, aus welchem Grund Sie und Ihre Tochter nicht mehr miteinander sprechen.«
    »Ja.« Sie zögerte. »Ich möchte Sie noch einmal fragen.« Sie sträubte sich, und ich schaute das Foto erneut an. »Bitte«, sagte ich. Sie faltete die Hände auf dem Schoß. »Ich versuche nicht daran zu denken.«
    »Mrs. Yates ...?«
    Sie nickte. »Vielleicht hilft es ja«, sagte sie, doch dann verging eine volle Minute, bevor sie weitersprach. »Wir hatten Streit«, sagte sie. »Das mag Ihnen normal erscheinen, aber es war kein Streit, wie er bei den meisten Müttern und Töchtern vorkommt. Sie wusste schon in einem sehr jungen Alter, wie sie mir wehtun konnte, sie wusste, wo sie das Messer hineinstoßen und wie sie es drehen musste. Um ehrlich zu sein, ich habe ihr vermutlich auch wehgetan, aber sie wollte sich nicht an die Regeln halten. Und es waren gute Regeln«, fügte sie eilig hinzu. »Faire Regeln. Und notwendige.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass es ihr bestimmt war zu scheitern. Ich dachte nur nicht, dass es sie schon so jung ereilen würde.«
    »Was meinen Sie mit scheitern?«
    »Sie war ja schon verwirrt. Lief im ganzen County herum wie eine Art Druide. Stritt mit mir über den Willen Gottes. Rauchte Gras, und der Himmel weiß, was noch alles. Ich schwöre Ihnen, es genügte, um eine Mutter um die Seele ihrer Tochter weinen zu lassen.«
    Sie schenkte sich Sherry nach und trank einen großen Schluck. »Sie war einundzwanzig, als das Baby kam. Unverheiratet, unbußfertig. Lebte in einem Zelt im Wald. Mit meinem Enkelkind!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wollte es nicht zulassen. Konnte es nicht zulassen.« Sie schwieg in sich versunken. »Ich tat, was ich tun musste.«
    Ich wartete, aber ich wusste schon mehr oder weniger genau, wie die Geschichte enden würde.
    Sie richtete sich ein wenig auf. »Natürlich habe ich mit ihr gesprochen. Ich habe versucht, ihr zu zeigen, dass sie auf dem falschen Weg war. Ich habe sie eingeladen, in mein Haus zurückzukehren, und versprochen, ihr zu helfen, das Kind geziemend großzuziehen. Doch sie wollte nicht auf mich hören. Sie werde sich eine Hütte bauen, sagte sie, aber sie machte sich etwas vor. Sie hatte kein Geld, keine Mittel.« Die alte Dame nahm wieder einen Schluck Sherry und schniefte. »Ich schaltete die Behörden ein...«
    Sie sprach nicht weiter. Ich wollte sie dazu auffordern, doch dann fuhr sie fort, mit lauter Stimme jetzt. »Sie lief davon. Mit meinem Enkelkind. Nach Kalifornien, hörte ich, wo sie gleichgesinnte Menschen suchen wollte. Freaks, wenn Sie mich fragen. Hexen und Heiden und Rauschgiftsüchtige.« Sie nickte. »Ja, ich sage Ihnen« — sie nickte und wiederholte sich —, »ich sage Ihnen ...«
    »Nach Kalifornien?«
    Sie trank ihren Sherry aus. »Sie war high, als sie von der Landstraße abkam. High von Gras, mit dem Baby im Auto. Danach konnte Sarah nie wieder gehen. Und das Kind habe ich auch nie gesehen. Mein Enkelkind starb in

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