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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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gefragt, was es im Leben meiner einzigen Tochter Gutes geben kann.«
    »Ma'am —«
    »Ich glaube, Sie sind mir gesandt worden, Mr. Chase. Ich glaube, Sie sind ein Zeichen von Gott.« Sie zögerte. »Bitte zwingen Sie mich nicht, zu betteln.«
    »An welche Uhrzeit hatten Sie gedacht?«
    »Jetzt wäre es ideal.«
    »Ich bin sehr müde, Mrs. Yates, und ich habe eine Menge zu tun.«
    »Ich mache einen Kaffee.« Ich sah auf die Uhr. »Ich kann Ihnen fünf Minuten schenken«, sagte ich. »Aber dann muss ich wirklich wieder gehen.«
    Das Haus war so, wie ich es zuletzt gesehen hatte: ein großes weißes Juwel auf einem grünen Samtkissen. Auf der Veranda blieb ich stehen, und der rechte Flügel der hohen Tür öffnete sich. Mrs. Yates stand mit gesenktem Kopf im Halbdunkel; sie wirkte ernst in ihrem kühlen grauen Flanellkleid mit dem weißen Spitzenkragen. Der Duft von getrockneten Orangenschalen wehte heraus, und ich fragte mich, ob sich hier jemals etwas änderte. Ihre Hand fühlte sich trocken an, die Knochen wie Reisig. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind«, sagte sie. »Bitte.« Sie trat beiseite und deutete mit dem Arm ins halbdunkle Innere. Ich ging an ihr vorbei, und die Tür schmiegte sich wieder in den Rahmen.
    »Ich kann Ihnen Sahne und Zucker zum Kaffee anbieten — oder etwas Härteres, wenn Ihnen das lieber ist. Ich selbst nehme einen Sherry.«
    »Nur Kaffee, bitte. Schwarz.«
    Ich folgte ihr durch eine geräumige Diele mit düsteren Gemälden und fein gemaserten Möbeln. Schwere Vorhänge hielten übermäßiges Sonnenlicht ab, aber in jedem Zimmer brannten zierliche Lampen. Durch offene Türen sah ich schimmerndes Leder und gedämpfte Farben. Irgendwo in der Weite des Hauses tickte eine Standuhr.
    »Sie haben ein schönes Haus«, sagte ich.
    »Ja.« Sie nickte.
    Sie holte ein Tablett aus der Küche und trug es in ein kleines Wohnzimmer. »Nehmen Sie Platz«, sagte sie und goss Kaffee aus einer Silberkanne ein. Ich setzte mich in einen schmalen Sessel mit harten Armlehnen. Die Porzellantasse war so leicht wie gesponnener Zucker. »Sie halten mich für kaltherzig«, sagte sie ohne Umschweife. »Was meine Tochter angeht, halten Sie mich für kaltherzig.« Ich stellte meine Tasse auf die Untertasse. »Ich habe Erfahrung mit dysfunktionalen Familien.«
    »Ich war ziemlich schroff, als wir über sie sprachen. Ich möchte nicht, dass Sie mich für senil oder herzlos halten.«
    »Manchmal ist es kompliziert. Ich würde mir nicht anmaßen, darüber zu urteilen.«
    Sie nippte an ihrem Sherry. Das langstielige Kristallglas klang wie eine Glocke, als sie es auf das Silbertablett stellte. »Ich bin keine religiöse Fanatikerin, Mr. Chase. Ich verdamme meine Tochter nicht, weil sie die Bäume und die Erde und Gott weiß was anbetet. Es wäre in der Tat herzlos, wenn ich mein einziges Kind aus Gründen verstoßen würde, die so verschwommen sind wie Glaubensunterschiede.«
    »Darf ich dann fragen, aus welchen Gründen Sie es getan haben?«
    »Das dürfen Sie nicht!«
    Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Finger ineinander. »Bei allem Respekt, Mrs. Yates, aber Sie haben dieses Thema zur Sprache gebracht.«
    Sie lächelte schmal. »Sie haben natürlich recht. Die Gedanken wandern umher, und der Mund folgt ihnen anscheinend bereitwillig.«
    Sie sprach nicht weiter. Plötzlich wirkte sie unsicher. Ich beugte mich vor, bis unsere Gesichter nah beieinander waren. »Ma'am, worüber möchten Sie mit mir sprechen?«
    »Haben Sie sie gefunden?«
    »Ja.«
    Sie senkte den Blick, und ich sah blaue Puderstriche in den Falten der papierdünnen Lider. Sie spitzte die Lippen, dünn und blutleer unter einem Lippenstift in der Farbe eines Sonnenuntergangs im Dezember.
    »Es ist zwanzig Jahre her«, sagte sie. »Zwei Jahrzehnte, seit ich meine Tochter das letzte Mal gesehen oder mit ihr gesprochen habe.« Sie hob das Sherry-Glas und trank, und dann legte sie mir eine federleichte Hand auf das Handgelenk. Ihre Augen weiteten sich, und ihre Stimme wurde brüchig. »Wie geht es ihr?«
    Die Verzweiflung in ihrem Gesicht ließ mich zurückweichen, der stille, kraftlose Hunger. Sie war eine einsame alte Frau, und nach zwanzig Jahren fing die Mauer ihres Zorns an zu bröckeln. Sie vermisste ihre Tochter. Das verstand ich. Also erzählte ich ihr, was ich konnte. Sie saß völlig still da und nahm alles in sich auf. Ich beschönigte nichts. Als ich fertig war, schaute sie zu Boden. Ein großer Diamant bewegte sich um ihren Finger, als sie

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