Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
Vom Netzwerk:
Kalifornien, Mr. Chase. Und meine Tochter kam als Krüppel zurück. Das habe ich ihr nie verziehen, und seitdem haben wir nicht mehr miteinander gesprochen.«
    Abrupt stand sie auf und wischte sich die Augen. »Wie wär's jetzt mit einer Kleinigkeit zum Essen?«
    Geschäftig ging sie in die Küche und blieb dort stehen, die flachen Hände auf die polierte Granitplatte gelegt, mit gesenktem Kopf. Sie bewegte sich nicht. Ihre Augen waren geschlossen. Etwas zu essen würde es nicht geben.
    Ich stand auf und stellte das Foto zurück ins Regal, ein wenig schräg, damit es das wenige Licht einfangen konnte, das hereinfiel.
    Es war alles da.
    So klar plötzlich.
    Ich legte den Finger auf das Glas und folgte der Linie ihres strahlenden Lächelns, und endlich begriff ich, warum Sarah mir so vertraut erschien. Sie sah aus wie Grace.
    Ich verließ die helle, leere Straße, fuhr zwischen den Bäumen hindurch und an Ken Millers Bus vorbei, ohne abzubremsen. Als ich vor Sarah Yates' Blockhütte anhielt, hing eine rote Staubwolke hinter meinem Wagen in der Luft. Mit zwei Schritten hatte ich die Veranda überquert und schlug laut an die Tür. Niemand kam.
    Aber der Van stand da, und das Kanu lag am Steg. Ich hämmerte wieder gegen die Tür und hörte drinnen ein Geräusch, leise und gedämpft, das anschwoll und zu Schritten wurde.
    Ken Miller öffnete die Tür.
    Er trug ein Badelaken um die Hüften. Die Haare auf seiner Brust waren verfilzt vom Schweiß, und sein Gesicht war hitzig gerötet. »Was zum Teufel wollen Sie?«, fragte er.
    Das große Zimmer hinter ihm lag im Schatten. Die Schlafzimmertür stand offen.
    »Ich möchte Sarah sprechen«, sagte ich.
    »Sie kann gerade nicht.«
    Von drinnen kam Sarahs Stimme. »Wer ist da, Ken?«
    »Adam Chase!«, schrie er über die Schulter. »Erhitzt und aufgeregt wegen irgendwas.«
    »Sag ihm, er soll einen Moment warten, und dann komm und hilf mir.«
    »Sarah ...« Er war genervt.
    »Ich will mich nicht wiederholen«, rief Sarah.
    Als Ken mich wieder ansah, lag Mordlust in seinen Augen. »Ich hab Sie so satt«, sagte er und zeigte auf die Reihe der Sessel auf der Veranda. »Warten Sie da drüben.« Fünf Minuten später ging die Tür wieder auf. Ken schob sich an mir vorbei, ohne aufzublicken. Seine Jeans war nicht zugeknöpft, seine Schuhe nicht geschnürt. Er marschierte davon, ohne sich umzusehen. Ein paar Augenblicke später kam Sarah in ihrem Rollstuhl auf die Veranda gefahren.
    »Kein Mann lässt sich gern in flagrante delicto stören«, stellte sie sachlich fest. Sie trug einen Flanellbademantel und Pantoffeln. Das Haar an ihrem Hinterkopf war noch schweißfeucht. »Das liegt in der Natur des Tieres.«
    Sie rollte aus und legte den Bremshebel um.
    »Sie und Ken ...?«, fragte ich.
    Sie zuckte die Achseln. »Wenn's gerade passt.«
    Ich schaute ihr forschend ins Gesicht und suchte nach Ähnlichkeiten mit Grace, und ich fragte mich, wie mir das je hatte entgehen können. Sie hatten das gleiche herzförmige Gesicht, den gleichen Mund. Die Augen hatten nicht die gleiche Farbe, aber die gleiche Form. Sarah war älter, ihr Gesicht voller, dazu das weiße Haar ... »Na, spuck's schon aus«, sagte sie. »Du bist aus einem bestimmten Grund hier.«
    »Ich habe Ihre Mutter heute wiedergesehen.«
    »Schön für dich.«
    »Sie hat mir ein Bild von Ihnen gezeigt, auf dem Sie noch sehr jung sind.«
    »Und?«
    »Sie sahen aus wie Grace Shepherd. Sie tun es in vieler Hinsicht immer noch.«
    »Aha.« Das war alles.
    »Was hat das zu bedeuten?«
    »Ich habe zwanzig Jahre darauf gewartet, dass jemand es bemerkt. Du bist der Erste. Vermutlich ist das nicht überraschend. Ich sehe nicht viele Leute.«
    »Sie sind ihre Mutter.«
    »Ich bin seit zwanzig Jahren nicht mehr ihre Mutter.«
    »Ihr Kind ist also nicht in Kalifornien gestorben?«
    Sie sah mich scharf an. »Du hast ja über so einiges mit meiner Mutter geredet, was?«
    »Sie vermisst Sie.« Sarah wedelte locker mit der Hand. »Blödsinn. Sie vermisst ihre Jugend, vermisst, was sie verloren hat. Ich bin nur ein Symbol für all das.«
    »Aber Grace ist ihre Enkelin?«
    Sie hob die Stimme. »Ich hätte ihr niemals erlaubt, mein Kind großzuziehen! Ich weiß, wie dieser Weg aussieht: schmal und hart und unbarmherzig.«
    »Dann war das mit dem Autounfall eine Lüge?«
    Sie rieb ihre leblosen Beine. »Das war keine Lüge, nein. Aber meine Tochter hat überlebt.«
    »Und Sie haben sie weggegeben?« Sie lächelte kalt, und ihre Augen waren zwei grüne

Weitere Kostenlose Bücher