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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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erkannte ich es: Miriams Geschenk.
    Die Wahrheit in einer dunklen Schachtel.
    Grace war zwei Tage vor dem Selbstmord meiner Mutter geboren, und das konnte kein Zufall sein.
    Miriam hatte recht.
    Er hatte auch mich zerstört.
    Mein Vater hob den Arm und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber das ließ ich nicht zu. Ich legte dem Sanitäter die Hand auf die Schulter. »Können Sie mich hier rausbringen?«
    Ich warf noch einen Blick zu meinem Vater hinüber, und als er mein Gesicht sah, schloss er den Mund.
    Ich wachte in einem Krankenhausbett auf; das Licht war gedämpft, und ich war noch halb betäubt und hatte keine Erinnerung an die Operation an meinem Bein. Aber ich erinnerte mich, dass ich von der jungen Sarah Yates geträumt hatte. Es war der gleiche Traum, den ich ein paar Nächte zuvor schon einmal gehabt hatte. Fast der gleiche. Sie lief im Mondschein durch den Garten, und ihr Kleid wehte lose um die Beine. Als sie sich umdrehte, hob sie die Hand, als habe sie einen Penny auf der Handfläche. Beim letzten Mal hatte der Traum da geendet. Diesmal nicht. Diesmal sah ich ihn ganz.
    Sie hob die Hand und berührte ihre Lippen mit den Fingerspitzen. Dann lächelte sie und warf eine Kusshand. Aber nicht zu mir.
    Der Traum war kein Traum. Er war eine Erinnerung. Ich stand an meinem Fenster, als kleiner Junge, und sah alles. Den Kuss, der im Wind wehte, das geheime Lächeln, und dann meinen Vater, barfüßig im hellen, feuchten Gras. Wie er sie in die Arme nahm und richtig küsste. Die rohe, nackte Leidenschaft, die ich schon damals erkannte.
    Ich hatte es gesehen, und ich hatte es begraben, irgendwo in einem kleinen Winkel im Herzen jenes Jungen. Doch jetzt erinnerte ich mich, spürte es wie einen Riss in meiner Seele. Sarah Yates erschien mir nicht so vertraut, weil sie aussah wie Grace.
    Sondern weil ich sie kannte.
    Ich dachte an das, was der Pfarrer über den Tod meiner Mutter gesagt hatte. »Niemand hat Schuld«, hatte er gesagt, und im Schatten der Kirche, die ich schon immer gekannt hatte, hatten diese Worte beinahe eingeleuchtet. Aber jetzt nicht mehr.
    Ich war zwanzig Jahre lang wütend gewesen, verstört, rastlos. Es war, als stecke eine Glasscherbe in meinem Kopf, eine rote Klinge, die sich durch mein weiches Inneres wühlte und mich auf dunklen Wegen zerschnitt. Immer hatte ich meiner Mutter die Schuld gegeben, doch nun verstand ich alles. Sie hatte abgedrückt, ja, sie hatte es vor meinen Augen getan, vor ihrem einzigen Kind. Aber was ich zu meinem Vater gesagt hatte, war die Wahrheit. Er hatte es sehen sollen, und jetzt begriff ich auch, warum. Acht Jahre lang Fehlgeburten. Dauerndes Versagen, bis sie zu einem Nichts verschlissen war.
    Dann hatte sie es irgendwie gewusst.
    Und sich die Pistole an den Kopf gesetzt.
    Mein Zorn, das erkannte ich nun, galt nicht meiner Mutter, deren Seele einfach dahingewelkt war, bis sie außerstande war, sie wieder aufzurichten. Ihr dafür zu grollen war unfair, und insofern hatte ich sie im Stich gelassen. Sie hatte etwas Besseres verdient. Sie hatte mehr verdient. Ich wollte um sie weinen, aber ich konnte nicht.
    In mir war kein Platz für sanfte Gefühle.
    Ich drückte auf den Rufknopf, und die Schwester erschien, eine dicke Frau mit brauner Haut und gleichgültigem Blick. »Es werden Leute kommen, die mit mir sprechen wollen«, sagte ich. »Vor halb zehn will ich niemanden sehen. Können Sie dafür sorgen?«
    Sie lehnte sich zurück und lächelte schief. »Warum halb zehn?«
    »Ich habe ein paar Anrufe zu erledigen.«
    Sie wandte sich zur Tür. »Will sehen, was ich machen kann.«
    »Schwester«, rief ich ihr nach, »wenn Detective Alexander kommt — mit der werde ich sprechen.«
    Ich sah auf die Uhr. Fünf Uhr achtundvierzig. Ich rief bei Robin zu Hause an. Sie war wach. »Hast du ernst gemeint, was du da über eine Entscheidung gesagt hast?«
    »Ich glaube, ich habe mich ziemlich klar ausgedrückt.«
    »Worte sind einfach, Robin, aber das Leben ist schwer. Ich muss wissen, ob du es wirklich ernst meinst. Alles? Im Guten und im Bösen? Mit allen Konsequenzen?«
    »Ich sag's jetzt zum letzten Mal, Adam; du brauchst mich also nie wieder zu fragen. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Du bist derjenige, der nicht mit der Sprache herausrücken will. Wenn du über Entscheidungen reden willst, dann müssen wir über dich reden. Das ist keine Einbahnstraße. Was hätte das für einen Sinn?«
    Ich ließ mir eine Sekunde Zeit, dann legte ich mich wohl oder übel

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