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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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die Schläfe. »Besser als ich.« Sie senkte die Stimme, und als sie aufschaute, war es, als sei sie mit den wilden Hunden verwandt. »Ich kenne dein Geheimnis«, sagte sie.
    »Miriam —«
    »Dein dreckiges, ekelhaftes Geheimnis!«
    Mein Vater kam auf sie zu, das Gewehr fest in der Hand.
    »Du hast mich zerstört«, sagte sie, und dann fing sie wieder an zu schreien. »Sieh doch, wie du mich zerstört hast!« Sie zerrte vorn an ihrem Kleid, und die Knöpfe flogen davon, bis sie es ganz aufgerissen hatte. Sie breitete es auseinander und zeigte uns ihren weißen Körper.
    Ihren weißen, zerschnittenen Körper.
    Jeder Zollbreit. Jede Rundung. Die Narben glänzten wie die Qualen der ganzen Welt. Auf ihrem Bauch. Ihren Schenkeln. Ihren Armen. Jede einzelne Stelle, die mit Kleidern verdeckt werden konnte, war wieder und wieder zerschnitten worden.
    Der Wort Schmerz war über ihr Herz geritzt, und Nein war in den Bauch geschnitten.
    Es hörte sich an, als müsse mein Vater ersticken. »Gütiger Gott«, sagte er, und als ich sie anschaute, wusste ich, dass sie sich nicht erst seit fünf Jahren zerschnitt. Nicht erst seit Gray Wilsons Tod. Niemals. Das hier ging schon sehr, sehr lange so.
    Miriam sah mich an, und ihr Gesicht war eine offene Wunde. »Sie ist seine Tochter«, sagte sie. »Hör auf, Miriam.«
    Aber das tat sie nicht. Schmerz verzerrte ihr Gesicht. Verlorenheit. Trauer. Sie schaute Grace an, und ich erkannte Eifersucht und Hass. Dunkle Emotionen. So dunkel.
    »All die Jahre.« Ihre Stimme brach. »Immer hat er sie mehr geliebt.«
    Die Pistole kam herauf.
    »Nicht«, sagte mein Vater.
    Die Waffe verharrte unsicher. Miriams Blick ging von Grace zu meinem Vater, und ihr Gesicht erschlaffte. Tränen. Wut. Und wieder diese irren Funken. Der Lauf bewegte sich, schwenkte über den Boden auf Grace zu.
    Mein Vater klang verzweifelt. »Um Gottes willen, Miriam. Zwing mich nicht, zu wählen.« Sie ignorierte ihn und sah mich an. »Rechne nur nach«, sagte sie. »Er hat auch dich zerstört.«
    Dann hob sie die Pistole, und mein Vater drückte ab. Der Gewehrlauf sprang in die Höhe und spuckte Lärm und Feuer, als wäre dies das Ende der Welt. Die Kugel traf Miriam oben rechts in die Brust, wirbelte sie zweimal wie eine Tänzerin um sich selbst und schleuderte sie dann quer durch das Zimmer. Knochenlos und schlaff fiel sie zu Boden, und ich sah auf den ersten Blick, dass sie nicht mehr aufstehen würde.
    Jetzt nicht mehr.
    Nie mehr.
    Rauchschwaden hingen im Zimmer. Grace schrie auf.
    Und mein Vater weinte zum vierten Mal in seinem Leben.

ZWEIUNDDREISSIG
    G race lebte noch, als der Krankenwagen kam. Aber ihr Leben hing am seidenen Faden. Die Sanitäter arbeiteten, als könnte sie jeden Augenblick sterben. Irgendwann verlor sie das Bewusstsein. Ihre Augen rollten in den Höhlen hinauf, und das Weiße trat nach vorn. Ihre blutigen Finger entspannten sich. Ich merkte nicht, dass ich wieder und wieder mit dem Hinterkopf gegen die Wand schlug, bis Robin ihre Hand auf mich legte. Ihre Augen waren ruhig und sehr braun. Ich schaute Grace an. Ein Bein zuckte, und ihr schöner Schuh hämmerte auf den Boden, während sie Luft in ihre Kehle pressten und ihr gnadenlos auf die Brust drückten. Ich hörte sie kaum atmen, als sie sie wieder zu sich gebracht hatten, aber jemand sagte: »Sie ist da.« Dann brachten sie sie weg.
    Ich schaute meinem Vater in die Augen. Er saß mir gegenüber an der einen Wand, und ich lehnte an der anderen. Ich glaube, trotz meiner höllischen Schmerzen, und obwohl Grace dem Tod so nah war, litt mein Vater am meisten. Ich sah ihn an, während ein Sanitäter sich über mein Bein beugte. Er hatte nur einen Blick auf Miriams Leichnam geworfen und dann Grace umschlungen, als sei er stark genug, um ihre Seele im Körper festzuhalten. Die Sanitäter hatten ihn wegreißen müssen, damit sie sie versorgen konnten. Er war nass von ihrem Blut und starr vor Entsetzen — zum Teil, das wusste ich, über das, was er getan hatte, aber zum Teil auch, weil Miriam mit ihren letzten Worten die Wahrheit gesagt hatte. Er wusste, was das bedeutete, und ich wusste es auch.
    Grace war seine Tochter. Na gut. In Ordnung. Passierte dauernd. Im Rückblick leuchtete es auch ein. Aus seiner Liebe zu ihr hatte er nie ein Hehl gemacht. Aber sie war erst zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter auf die Farm gekommen. Ich hatte niemals nachgerechnet. Ich war nie auf den Gedanken gekommen.
    Doch ich wusste, wann Grace Geburtstag hatte, und jetzt

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