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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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sagte ich und legte eine Hand auf die harte Wölbung seiner Schulter. »Du hast mir gefehlt.«
    Er faltete seine massige Gestalt in den Pick-up. »Bis morgen Abend«, sagte er und rumpelte davon, zu den Feldern hinunter. Von der Veranda aus sah ich, wie er den Ellenbogen auf die Fensterkante drapierte. Dann winkte er kurz, und ich wusste, dass er mich im Rückspiegel beobachtete. Ich ging hinunter auf den Rasen und sah ihm nach, bis er verschwunden war. Dann machte ich mich auf den Weg bergab.
    Grace und ich hatten einander nahegestanden. Vielleicht seit jenem Tag am Fluss, als ich die Heulende in den Armen gehalten hatte, während mein Vater Dolf in den Dreck warf, weil der sie hatte weglaufen lassen. Vielleicht auch seit dem langen Heimweg, als ich auf sie eingeredet hatte, bis sie sich beruhigte. Vielleicht lag es an dem Lächeln, das sie mir geschenkt hatte, oder an der verzweifelten Umklammerung, mit der sie sich an meinem Hals festgehalten hatte, als ich sie auf den Boden stellen wollte. Was immer es war, es gab ein Band zwischen uns, und ich beobachtete voller Stolz, wie sie die Farm im Sturm eroberte. Es war, als habe der Fall ins Wasser sie gezeichnet, denn sie war furchtlos. Mit fünf konnte sie im Fluss schwimmen, mit sieben ohne Sattel reiten. Mit zehn beherrschte sie das Pferd meines Vaters, ein großes, niederträchtiges Biest, das jedem außer meinem Alten Angst einjagte. Ich brachte ihr das Schießen und das Angeln bei. Sie fuhr mit mir auf dem Traktor und bettelte darum, einen der Farmtrucks fahren zu dürfen, und sie quiekte vor Vergnügen, als ich es ihr erlaubte. Sie war von Natur aus wild, und oft kam sie mit blutigem Gesicht aus der Schule und erzählte eine Geschichte von irgendeinem Jungen, der sie geärgert hatte.
    In vieler Hinsicht fehlte sie mir mehr als die meisten. Ich folgte dem schmalen Pfad zum Fluss hinunter und hörte die Musik, lange bevor ich unten ankam. Sie hörte Elvis Costello.
    Der Steg war zehn Meter lang, ein Knochenfinger, der den Fluss streichelte, mitten in der weiten Biegung nach Süden. Sie saß auf der Kante, hielt mit dem Fuß den Rand eines dunkelblauen Kanus fest und sprach mit der Frau, die darin saß. Zögernd blieb ich unter einem Baum stehen, wusste nicht, ob ich sie stören sollte.
    Die Frau hatte weißes Haar, ein herzförmiges Gesicht und schlanke Arme. In ihrer narzissengelben Bluse wirkte sie sehr braun. Ich sah, wie sie Grace die Hand tätschelte und etwas sagte, das ich nicht hören konnte. Sie winkte kurz, und Grace stieß das Kanu mit dem Fuß vom Steg ab und ließ es auf den Fluss hinausgleiten. Die Frau tauchte das Paddel ein und richtete den Bug stromaufwärts. Sie rief noch ein paar Worte zu der jüngeren Frau hinüber, dann schaute sie auf und sah mich. Sie hörte auf zu paddeln, wurde von der Strömung zurückgetrieben. Sie starrte mich an und nickte einmal, und mir war, als hätte ich ein Gespenst gesehen.
    Sie paddelte flussaufwärts, und Grace ließ sich rücklings auf das harte weiße Holz sinken. Es war ein strahlend heller Augenblick; ich sah der Frau nach, bis sie hinter der Flussbiegung verschwunden war. Dann trat ich auf den Steg hinaus. Meine Schritte hallten laut auf den Planken. Sie rührte sich nicht, als sie sprach.
    »Geh weg, Jamie. Ich will nicht mit dir schwimmen gehen, ich will nicht mit dir ausgehen. Und ich will unter keinen Umständen mit dir ins Bett gehen. Wenn du mich anstarren willst, stell dich wieder an dein Fernrohr im zweiten Stock.«
    »Ich bin nicht Jamie«, sagte ich.
    Sie rollte sich auf die Seite, schob die Sonnenbrille auf die Nasenspitze und ließ mich ihre Augen sehen. Sie waren blau und scharf.
    »Hallo, Grace.«
    Sie weigerte sich zu lächeln und schob die Brille wieder hoch, um ihre Augen zu verbergen. Sie drehte sich auf den Bauch, streckte die Hand nach dem Radio aus und stellte es leiser. Dann stützte sie das Kinn auf die übereinandergelegten Hände und schaute hinaus auf das Wasser.
    »Soll ich jetzt aufspringen und dir um den Hals fallen?«, fragte sie.
    »Das hat bisher noch keiner getan.«
    »Ich werde dich nicht bedauern.«
    »Du hast nie auf meine Briefe geantwortet.«
    »Zum Teufel mit deinen Briefen, Adam. Du warst alles, was ich hatte, und du bist weggegangen. Damit ist die Geschichte zu Ende.«
    »Es tut mir leid, Grace. Wenn es irgendetwas bedeutet: Dass ich dich allein gelassen habe, hat mir das Herz zerrissen.«
    »Geh weg, Adam.«
    »Aber ich bin jetzt hier.«
    Ihre Stimme bekam Dornen.

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