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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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Geweihs zu tragen hatte, das von einer Spitze zur anderen sicher anderthalb Meter breit war. Ich hielt den Atem an. Er hob den Kopf und wandte ihn mir zu, und ich sah diese großen, schwarzen Augen.
    Nichts rührte sich.
    Dampf kondensierte vor seinen Nüstern.
    Er schnaubte, und in meiner Brust regte sich ein seltsames Gefühl: Trost, durchzogen von Schmerz. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber es fühlte sich an, als könnte es mich aufreißen. Sekunden zogen an uns vorbei, und ich dachte an den anderen weißen Hirsch und daran, wie ich schon mit neun Jahren gelernt hatte, dass Zorn den Schmerz wegspülen kann. Ich streckte die Hand aus, obwohl ich wusste, dass ich zu weit entfernt war, um ihn zu berühren, dass zu viele Jahre vergangen waren, um jenen Tag zurückzubringen. Ich trat einen Schritt näher, und das Tier legte den Kopf schräg und scharrte mit dem Geweih an einem Baum entlang. Davon abgesehen blieb es ganz still stehen und beäugte mich.
    Dann hallte ein Schuss durch den Wald. Er kam von weither, vielleicht zwei Meilen entfernt. Er hatte nichts mit dem Hirsch zu tun, aber trotzdem richtete er sich auf. Mit einem Satz schnellte er im hohen Bogen über den Fluss hinaus, und das schwere Geweih drückte den Kopf herunter. Er tauchte ins Wasser, pflügte sich schäumend durch die Strömung und warf sich nach vorn, als er sich dem anderen Ufer näherte. Kraftvoll arbeitete er sich durch den glitschigen Lehm hinauf und drehte sich oben auf der Böschung um. Eine Sekunde lang sah ich ein wildes schwarzes Auge, dann warf er den Kopf zurück und verschwand im Dämmerlicht ein helles Schimmern, ein weißer Blitz, der hier und da grau erschien. Ich wusste nicht, warum, aber plötzlich fiel mir das Atmen schwer. Ich setzte mich auf den kalten, feuchten Boden, und die Vergangenheit stieg in mir herauf.
    Ich sah den Tag, an dem meine Mutter starb.
    Ich wollte nichts töten. Das hatte ich noch nie gewollt. Das war meine Mutter in mir — jedenfalls hätte mein Alter Herr das gesagt, wenn er es gewusst hätte. Aber Tod und Blut gehörten dazu, wenn man vom Jungen zum Mann heranwuchs, was immer meine Mutter dazu zu sagen hatte. Mehr als einmal hatte ich die Diskussionen gehört: leise Stimmen am späten Abend, meine Eltern, die darüber stritten, was bei meiner Erziehung richtig und was falsch war. Ich war acht, und ich traf einen Flaschendeckel auf sechzig Schritt. Aber Schießübungen waren Übungen, nichts weiter. Wir alle wussten, was da draußen wartete.
    Der Alte Herr hatte seinen ersten Hirsch mit acht Jahren erlegt, und noch immer wurden seine Augen glasig, wenn er davon sprach und erzählte, wie sein eigener Vater ihm an jenem Tag das heiße Blut auf die Stirn gestrichen hatte. Das war eine Taufe, sagte er, eine Handlung, die weit durch die Zeit reichte. Am festgelegten Morgen erwachte ich mit Kälte und Grauen und Übelkeit im Magen. Aber ich riss mich zusammen und traf mich draußen im Dunkeln mit Dolf und meinem Vater. Sie fragten, ob ich bereit sei. Ich bejahte, und sie nahmen mich in die Mitte, als wir über den Zaun stiegen und in den dunklen, geheimnisvollen Wald wanderten.
    Vier Stunden später waren wir wieder zu Hause. Mein Gewehr roch nach verbranntem Pulver, aber ich hatte kein Blut an der Stirn. Kein Grund, sich zu schämen, sagten sie, doch ich bezweifelte, dass sie es ehrlich meinten.
    Ich blieb hinten an der Ladeklappe auf dem Truck meines Vaters sitzen, während er hineinging, um nach meiner Mutter zu sehen. Mit schwerem Schritt kam er wieder heraus.
    »Wie geht es ihr?«, fragte ich, aber ich wusste, wie die Antwort lauten würde. »Wie immer.« Seine Stimme klang barsch, doch er konnte seine Traurigkeit nicht verbergen. »Hast du es ihr erzählt?« Ich fragte mich, ob mein Versagen ihr eine der seltenen Freuden bereiten würde. Aber er antwortete nicht, sondern fing an, sein Gewehr zu zerlegen. »Sie wollte eine Tasse Kaffee. Bring ihr eine, ja?«
    Ich wusste nicht, was meiner Mutter fehlte — nur, dass das Licht in ihr erloschen war. Sie war immer warmherzig und lustig gewesen, eine Freundin an den langen Tagen, die mein Vater auf den Feldern verbrachte. Wir spielten miteinander und erzählten uns Geschichten, und wir lachten die ganze Zeit. Dann veränderte sich etwas. Sie wurde düster. Ich wusste längst nicht mehr, wie oft ich sie hatte weinen hören, und meine Worte waren schon so oft auf leere Blicke und Schweigen gestoßen, dass es mir Angst machte. Sie nahm immer mehr

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